Flims war und ist ein geschichtsträchtiger Ort. Vor 10000 Jahren entstand die sonnige Terrasse durch das grösste bekannte alpine Bergsturzereignis, dem Flimser Bergsturz, bei dem zwischen 12 und 15 km³ Gestein den Talgrund des Vorderrheintals teilweise bis zu 800 Meter hoch verschütteten. Genau wie für die Geologie ist Flims aber auch ein geschichtsträchtiger Ort für den frühen Schweizer Skitourismus gewesen. Noch vor dem zweiten Weltkrieg entsteht im Büdner Kurort die erste Schweizer Skischule. Nachdem 1934 in Davos der erste Skilift der Schweiz eröffnet wird, ist es auch für Flims selbstverständlich, dass zum Wohl der Gäste früher oder später eine mechanische Aufstiegshilfe unumgänglich sein wird.
Zunächst jedoch setzt der zweite Weltkrieg den Plänen der Flimser ein jähes Ende. Doch schon kurz nach Kriegsende entsteht oberhalb des Ortes eine erste Seilbahn. Sie-&-Er-Bügel trifft man bei der Anlage allerdings ebensowenig an wie einfache Sessel, die bereits seit zwei Jahren in Engelberg nach Plänen und Konstruktion von Ernst Constam und Henri Sameli-Huber in Engelberg den mühsamen Aufstieg im Sommer zum Jochpass überflüssig machen. Es ist das Berner Eisen- und Stahlwerk Von Roll, welches in Flims erstmals sein neuartiges Seilbahnsystem der Öffentlichkeit präsentiert und mit ihm neue Massstäbe im Bau von seilgezogenen Aufstiegshilfen setzt.
Flims – Foppa: Die erste kuppelbare Sesselbahn der Welt
Im Sommer 1945 wird die Sesselbahn Flims-Foppa gebaut, die weltweit erste kuppelbare Sesselbahn. Ausgestattet mit dem legendären Klemmensystem Typ VR101, welches sich schon bald in ganz Europa zum gefragtesten Seilbahnsystem entwickeln sollte. Auf- und Absitzen ist bei diesem Zweiersesseln kein Problem, halten sie in den Stationen doch an. Ebenso erlaubt das System wesentlich höhere Streckengeschwindigkeiten, sodass die Bergstation Foppa schon nach wenigen Minuten erreicht ist. Kein Wunder also, dass nur ein Jahr später bereits eine Anschlusssektion zur Alp Naraus eröffnet wird, die im Winter den Skifahrern mit zahlreichen Abfahrten entgegenkommt. Ebenso wie im Sommer den Wandergästen, die das Bündner Bergdorf aufsuchen.
Schon bald kommt aber auch der Wunsch nach einer Verlängerung der Achse bis auf den Cassonsgrat auf. Schliesslich erreicht man mit den beiden Sesselbahnen nur eine Höhe von knapp 2000 Metern. Um gegenüber den prächtig gedeienden zahlreichen anderen Schweizer Skigebieten weiterhin konkurrenzfähig zu bleiben, muss eine weitere Bahn her. Das Gelände und die Trassierung entlang der Abrisskante des Flimser Bergsturzes erlaubt jedoch keine Fortsetzung in Form einer dritten Sektion Sesselbahn. Zu schroff sind die Felsen, zu gross wäre der Bodenabstand.
Eine Seilbahn auf den Cassonsgrat
Trotzdem entsteht nach dem Konzessionsgesuch wieder eine Bahn der Firma Von Roll. Eine klassische Pendelbahn. Auch in diesem Segment ist das Berner Unternehmen das gefragteste in der ganzen Schweiz. Nachdem 1908 in Kooperation mit dem Ingenieur Wilhelm Feldmann der Wetterhornaufzug entstand, konnte die Firma ab den 30er Jahren eine enorme Anzahl an teils spektakulär trassierten Luftseilbahnen eröffnen. Für das Projekt am Cassonsgrat sieht die Planung im Gegensatz zu einigen anderen bereits erstellten Bahnen allerdings nur 23 Personen pro Kabine vor. Bahnen mit Kabinengrössen von bis zu 40 Personen hatte Von Roll bereits realisiert. Doch die grösseren Kosten und die nicht erforderliche Förderleistung machten derart grosse Kabinen für den Cassonsgrat uninteressant.
Nach über einem Jahr Bauzeit konnte die Bahn Ende 1956 schliesslich eröffnet werden. Über vier Zwischenstützen schweben zwei rote Kabinen der Schweizerischen Industrie-Gesellschaft SIG in knapp zehn Minuten von 1846 bis auf 2644 Meter Seehöhe. Das urige Bergrestaurant Cassons lädt zum Verweilen ein, das grosse, weitläufige erschlossene Skigelände erlaubt es auch Skiprofis, sich auszutoben. Pistenmaschinen und präparierte Autobahnen gibt es nicht. Den ganzen Winter über erfreuen sich die Skifahrer im Hochgebirge an Tiefschneefahrten. Während der Seilbahnfahrt sind auch immer wieder andere Bewohner des Bergs ersichtlich. Ein Klassiker, das Suchen und Beobachten von Steinböcken, die sich in faszinierender Weise entlang der steilen Abhänge des Bergsturzes entlang hangeln. Auch im Sommer lädt der Cassonsgrat zum Verweilen ein. Zahlreiche Wanderungen auf dem Hochplateau sind möglich, umgeben von der Aussicht, die vom nahegelegenen Tödi bis zum Piz Bernina reicht.
Den Charme der 50er Jahre erleben
Das war 1956. Und das Schöne ist, genau das kann man auch noch im Jahre 2010 in exakt der selben Form erleben. Zwar wurden an der Luftseilbahn zum Cassonsgrat die üblichen notwendigen Arbeiten ausgeführt, die die Bahn auf den aktuellen Stand der Sicherheit bringen. Aber dennoch hat die Bahn nichts von ihrem ursprünglichem Charme verloren, sodass der Cassonsgrat auch nach 50 Jahren immer noch von einem der schönsten Verkehrsmittel der Alpen erschlossen wird. Noch heute bedient der Cassonsgrat auch die Königsklasse des alpinen Skisports. Bis heute hat die Bergstation noch keine Pistenmaschine zur Präparierung der Abfahrten gesehen. Noch immer sind sämtlichen Routen ins Tal für Freeride-Aktivitäten reserviert.
Ungewisse Zukunft am Cassonsgrat
Doch leider soll das Vergnügen Cassonsgrat nur noch von kurzer Dauer sein. Zumindest in der derzeitigen Form. Wie so oft sind derartige Angebote mit zwar für den Berg ausreichender, aber gegenüber anderer Anlagen verschwindend geringer Förderleistung, nicht gewinnmaximierend. So denkt die Betreibergesellschaft, die Bergbahnen Flims über eine komplette Stillsetzung der Anlage auf den Cassonsgrat nach. Lediglich die erste Sektion von Flims nach Foppa, eine aus den 80ern stammende Ersatzanlage für die erste VR101, soll erhalten bleiben. Sektion zwei und drei sollen aufgelassen werden.
Der Verein Pro Cassons kämpft allerdings darum, den Cassonsgrat weiterhin per Bahn zu erschliessen. Bedauerlich für den Freund von Seilbahnkultur ist allerdings, dass der Verein sich nicht für den Erhalt der derzeitigen Bahn einsetzt, sondern nur für eine generelle Erschliessung des Berges. So gibt es Planungen, die Sesselbahn nach Startgels zu verlegen und von dort aus den Cassonsgrat per Pendelbahn zu erschliessen. Allerdings würde damit nicht nur die nostalgische Luftseilbahn verloren gehen, sondern durch die direkte Anbindung an das restliche (Pisten-) Skigebiet auch die einmalige Atmosphäre der 50er Jahre. Eine Umgestaltung in eine massentaugliche Industrialisierung des Cassonsgrates ist nicht ausgeschlossen.
Bis Ende der Sommersaison 2011 wird der Cassonsgrat in der derzeitigen Form in jedem Fall erschlossen bleiben. Es ist daher jedem Leser zu empfehlen, den Berg im kommenden Winter noch einmal aufzusuchen. Denn der 55. Winter am Fil de Cassons könnte sehr wahrscheinlich der letzte für immer sein. Zumindest ohne Pistenautobahn, Drehrestaurant, Streichelzoo und Abenteuerspielplatz mit Ganztagesbetreuung.
Über dem Nebelmeer auf dem Cassonsgrat
Die simple, ästhetische Talstation, in der sich auch die Antriebseinheit der Anlage befindet. Rechts davon die Bergstation der 1987 erbauten Sesselbahn Foppa-Naraus. Die Von-Roll-Anlage ersetzte die zweite Sektion VR101, welche ihre Bergstation etwas oberhalb besass.
Schon an Stütze 1 mit ihrer schmalen Seilspur hat die Kabine die Streckengeschwindigkeit von 6 m/s erreicht.
Stütze 2 ist seitlich durch eine zusätzliche Verstrebung verstärkt. Gut sichtbar ist, dass die Seilspur hier wegen des knapp über einem Kilometer langen Spannfeldes, auf welchem sich die beiden Kabinen begegnen, bereits deutlich breiter ist.
Faszinierend ist die Bahn entlang der Abrisskante des Bergsturzes trassiert.
Die Stützen 3 und 4 finden sich wie so oft bei Von Roll nah beisammen und weisen gemeinsam den grössten Gefällsbruch der Strecke auf.
Die sehr simple Umlenkung des Zugseils in der Bergstation.
Heute ist die Cassonsbahn im Dauerbetrieb. Eine volle Kabine nach der anderen trifft auf dem Fil de Cassons ein. Kein Wunder, sieht man sich das Wetter im Tal an!
Eine Kabine mit der Bergstation und dem Bergrestaurant.
Beide Kabinen begegnen sich auf dem langen Spannfeld zwischen Stütze 2 und 3.
Sowie an Stütze 3, welche in Falllinie zusätzlich verstärkt ist.
Eine Kabine vor der Traumkulisse, sofern man sich über dem Nebel befindet. Im Hintergrund wäre das Rheintal zu sehen.
Fil de Cassons, 2674 Meter über dem Meer. An der Fahnenstange beginnen im Winter die Abfahrtsrouten nach Naraus respektive zur Segnashütte.
Das Val Segnas mit dem gleichnamigen Piz Segnas und dem Segnasgletscher.
Eine Insel im Wolkenmeer, jenseits der Massentauglichkeit.
Die Zeit hier oben ist stehen geblieben. Hoffen wir, dass das auch noch eine Zeit lang so bleibt!
Nachtrag vom Oktober 2015
Glücklicherweise konnte der Betrieb der Cassonsbahn noch einige weitere Jahre aufrechterhalten werden. Mit Ende der Sommersaison 2015 wurde die altehrwürdige Luftseilbahn mitsamt dem Bergrestaurant allerdings ersatzlos stillgelegt. Dass der Cassonsgrat zukünftig wieder erschlossen wird, ist fragwürdig. Und in seiner ursprünglichen Form wird man den Gipfel vermutlich nie wieder erleben können.
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Felix ist Fotograf und Autor, spezialisiert auf Landschafts- und Reisefotografie und zu Hause im Saarland und der ganzen Welt. Wenn er nicht gerade in der Natur oder den Bergen unterwegs ist, schreibt er hier über seine Reisen, die Fotografie oder über sein liebstes Fortbewegungsmittel, die Seilbahn.