Die Schweiz weist verglichen mit anderen Alpenländern bekanntlich eine sehr hohe Dichte an aussergewöhnlichen Bahnen und Unikaten auf. Egal ob bei Anlagen für den Skitourismus oder bei für andere Zwecke eingesetzte Bahnen, man trifft noch sehr häufig Produkte jenseits der Massenware an. Die Kabinenbahn am Monte Tamaro ist beides zugleich. Ein Massenprodukt ab Stange, und trotzdem in der Schweiz seit langer Zeit ein Unikat.
Das Carlevaro-Kuppelsystem für Seilbahnen
Um die Entstehung der Bahn nachvollziehen zu können, hilft ein Blick in die Geschichtsbücher der Seilbahnhistorie. 1949 erbaut Ugo Carlevaro in Alagna, einem kleinen Bergdorf oberhalb von Borgosesia im italienischen Piemont, seine erste Kabinenbahn. Carlevaros Idee ist ähnlich revolutionär wie seinerzeit die VR101 in der Schweiz. Mit einem Mal ist es möglich, dass Fahrgäste komfortabel in geschlossenen Kabinen auf die Berge transportiert werden können. Und das gleichzeitig verbunden mit einem bequemen und sicheren Ein- und Ausstieg im Stillstand. Hohe Förderleistungen sind mit einem Mal realisierbar. Ein in späteren Jahren nicht mehr wegzudenkendes Mittel, um dem aufstrebenden Skitourismus Herr zu werden. In Italien verbreiten sich Carlevaros Bahnen schnell. Ebenso erobert er mit seinen Konstruktionen die Herzen der Amerikaner, in deren Skigebieten die kuppelbaren und schnellen Seilbahnen als willkommene Abwechslung zu den vorherrschenden „fixed-grip chairlifts“ angesehen werden.
Doch die Verbreitung in Europa verläuft zunächst weit weniger erfolgreich. Bis Carlevaro Lizenzen zum Bau seiner Bahnen unter anderem an seine Landsmänner, die Fratelli Marchisio sowie an den deutschen Seilbahnhersteller Heckel vergibt. Letzterer erstellt bereits zu Beginn der 60er Jahre auch in der Schweiz Anlagen mit den klassischen bunten Ovovie. Seine einzige selbst erstellte Anlage auf Schweizer Boden erbaut Carlevaro 1955 oberhalb von Locarno an der Cimetta in Form einer kuppelbaren Seitwärtssesselbahn. Kurioserweise dauert es aber bis 1973, ehe die erste Kabinenbahn mit italienischem Kuppelsystem in der italienischen Schweiz erbaut wird. Es ist die Bahn am Monte Tamaro, die zugleich die einzige Kabinenbahn mit diesem System auf Tessiner Boden bleiben soll.
Das grösste Skigebiet der Südschweiz
Betrachtet man die Vegetation des Tessins, so trifft man eine typisch mediterrane Flora und Fauna an. Schlechte Voraussetzungen also für einen Skibetrieb? Nicht unbedingt, denkt sich der eine oder andere Investor, sodass die Skigebiete auch im Tessin in den 70er Jahren wie die Palmen am Lago Maggiore aus dem Boden spriessen. Schneereiche Winter sowie der scheinbar nicht aufzuhaltende aufstrebende Skitourismus machen den Skibetrieb im Ticino lukrativ. Am Monte Tamaro entstehen neben der langen Zubringerkabinenbahn in zwei Sektionen im Laufe der 70er Jahre drei Skilifte sowie eine fixe Sesselbahn. Damit wird das Gebiet zu einem der grössten und sicher auch abwechslungsreichsten der Südschweiz. Eine Abfahrt mit über 500 Höhenmetern ist möglich. Eine wahre Seltenheit für ein Skigebiet dieser Grösse und in dieser Region.
Jähes Ende des Skisports im Südtessin
Doch mit der Zeit nimmt das Interesse am Skiberg Monte Tamaro wieder ab. Wie so viele kurzfristig erfolgreiche Skigebiete steht auch dem Monte Tamaro keine rosige Zukunft bevor. Nach 25 Jahren Betrieb wird die finanzielle Lage zum Ende des Jahrtausends immer prekärer. Schon vor Jahren hat man den Aufsprung auf den Zug der Modernisierungswelle verpasst. Zu uninteressant sind die mehrheitlich flachen Abfahrten und mit dem abflachendem Tourismusboom im Wintersport kann sich das Skigebiet nicht länger über Wasser halten. So kommt es, wie es kommen muss. Am Ende der Wintersaison 2002/2003 werden die Gehänge der Skilifte und die Sessel der Sesselbahn zum allerletzten Mal verstaut.
Die Kabinenbahn ist seither nur noch in den Sommermonaten in Betrieb, das gesamte Konzept wird auf einen reinen Sommerbetrieb umgestaltet. Eine Sommerrodelbahn und viele weitere Attraktionen schmücken die Alpe Foppa, die Infrastruktur für den Wintersport verschwindet 2005 für immer. Nur noch die stark modellierte Hügellandschaft erinnert daran, dass hier einmal das möglich war, für das man nun mindestens bis in die Leventina fahren muss. Denn das einzige weitere Skigebiet des Sottoceneri, der Monte Lema, schliesst zur selben Zeit seine Skipisten an den beiden kurzen Skiliften ebenfalls für immer.
Die Seilbahn am Monte Tamaro – Ein Unikat im Alpenraum
Auch die Kabinenbahn erlebte die Zeit vom Bau bis zur Stillegung der restlichen Anlagen nicht ganz ohne Umbau. Marchisios einstige Konkurrenzfirma Agudio, die zu diesem Zeitpunkt bereits zum Poma-Konzern unter dem Namen Poma Italia tätig ist, unterzieht die Bahn einem gross angelegten Umbau. Markantestes Merkmal des Umbaus ist klar der Austausch der originalen Kabinen gegen nicht wirklich stilechte violette Plastikbomber. Glücklicherweise für den Seilbahnfan wird an der Bahntechnik aber nichts auffallend geändert, sodass es sich heute nicht nur um die einzige verbliebene Seilbahn mit dem Carlevaro-Klemmensystem der Schweiz, sondern des gesamten Alpenraums handelt.
Lediglich eine Parkseilbahn im deutschen Saarbrücken ist noch mit dem selben System ausgestattet. Hierbei handelt es sich um eine Bahn des Herstellers Heckel, der nur wenige Kilometer entfert seine Bahnen produzierte. Schon allein aufgrund dieser Tatsache ist eine Fahrt mit dieser Bahn ein absolutes Muss für einen Interessierten an der Seilbahnhistorie. Denn auch wenn es sich um ein im deutschen Sprachraum nicht allzu oft anzutreffendes Kuppelsystem handelt, so ist es für den Skitourimus in Italien genauso ein historisches Zeitdokument wie die VR101 in der Schweiz.
Seilbahnfahrt von Rivera zum Monte Tamaro
Blick vom Parkplatz auf die erste Sektion Rivera-Piano di Mora mit ihren Carlevaro- und Marchisio-typischen Fachwerkstützen.
Ein Blick auf den grössten Teil der ersten Sektion, die gegen Ende relativ steil durch den bereits herbstlich angehauchten Laubwald empor schwebt.
Die Talstation macht von aussen einen typisch italienischen Eindruck. Markant ist auch der hohe Turm inmitten der Station, durch welchen das Förderseil zur Abspannung geführt wird. Eine Methode zur Umgehung eines kostenaufwendigen Spannschachts.
Die markante Carlevaro-Klemme am Förderseil.
Die Innenansicht der Station bietet einen Blick in den sehr sauberen und gepflegten Kabinenumlauf und in die Kabinengarage. Würde man aufgrund der teils doch sehr heruntergekommenen Aussenfassade nicht unbedingt erwarten.
Nach wenigen Metern überquert die Bahn die A2, nahe des Monte Ceneri-Tunnels. Darüber thront unübersehbar der Sendeturm am Monte Ceneri.
Ein Niederhalter auf der Strecke der ersten Sektion.
Und schon bald ist auch die Mittelstation Piano di Mora erreicht. Auch hier hat man in den letzten Jahren zahlreiche Freizeiteinrichtungen aufgestellt. Am Horizont erkennt man bereits die von Mario Botta entworfene Kirche nahe der Bergstation der Kabinenbahn.
Im Inneren der Mittelstation, wo sich die beiden Unterflurantriebe der Bahnen befinden. Die Kabinen fahren im Regelfall hier direkt von der ersten zur zweiten Sektion durch. Theoretisch ist aber auch ein getrennter Betrieb möglich.
Unterwegs in der anfangs recht steilen zweiten Sektion.
Ein Blick zurück auf die Mittelstation. Im unteren Teil der zweiten Sektion ist deutlich die Schneise der ehemaligen Skiabfahrt zu erkennen. Aus dieser Perspektive verlief diese im oberen Teil rechts der Bahn.
Bergstation Alpe di Foppa. Interessanterweise besteht die letzte Stütze als einzige der gesamten Bahn aus einem konischen Vierkantschaft.
Rundgang durch das ehemalige Skigebiet am Monte Tamaro
Aussicht auf Bellinzona und die Magadinoebene. Auf den Hängen im Vordergrund bedienten einst die Skilifte und die Sesselbahn Skipisten.
Blick zum eigentlichen Gipfel des Monte Tamaro. Davor ist die extrem modellierte ehemalige Abfahrt der Sesselbahn zu sehen. Bis zu deren Bergstation führt heute ein Alpine Coaster.
Blick zur Cimetta oberhalb von Locarno. Hier ist an zwei Skiliften auf der Nordseite noch immer Skibetrieb an schönen Wintertagen. Bei guter Schneelage ist auch eine Abfahrt entlang der im Bild sichtbaren Seitwärtssesselbahn möglich. Am rechts der Bildmitte befindlichen Südhang stand 1951 der erste Skilift. Dieser stellte sich allerdings als ein etwas optimistischer Versuch heraus, sodass dieser schneearme Hang heute nicht mehr infrastruktuell erschlossen ist.
Auch der Monte Tamaro kann seine Vergangenheit nicht verbergen. Am sichtbaren Häusschen starteten die beiden kurzen Übungslifte Valle Luna.
Abschliessende Impressionen von der Talfahrt mit der Kabinenbahn nach Rivera.
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Felix ist Fotograf und Autor, spezialisiert auf Landschafts- und Reisefotografie und zu Hause im Saarland und der ganzen Welt. Wenn er nicht gerade in der Natur oder den Bergen unterwegs ist, schreibt er hier über seine Reisen, die Fotografie oder über sein liebstes Fortbewegungsmittel, die Seilbahn.