Für die einen sind Seilbahnen ein Transportmittel, das seinen Zweck erfüllen soll. Lästige Aufstiege vermeiden, sei es zum Skifahren oder zum Geniessen der Aussicht im Gebirge. Für die anderen sind die seilgezogenen Aufstiegshilfen eine faszinierende Kombination aus menschlicher Ingenieurskunst und historisch wertvollem Kulturgut. Dass ich zu zweiterer Kategorie gehöre, brauche ich vermutlich nicht zu erwähnen. Doch gibt es Unterschiede. Für manche Seilbahnen fahre ich bis ans Ende der Welt. Andere dagegen können mich nicht einmal dazu bewegen, für ein Foto anzuhalten. Es kann die Technik sein, die Geschichte, die Trassierung, die Einzigartigkeit. Faktoren, die eine Seilbahn interessanter machen als andere. Und es gibt Anlagen, die vereinen all diese Dinge noch dazu mit einer emotionalen Komponente.
Eine unscheinbare und doch spezielle Seilbahn
Eine von ihnen ist in meinem Fall die Luftseilbahn von Zermatt nach Furi. Eigentlich unscheinbar gelegen am Fusse des Matterhorns, ohne grossartig spektakuläre Elemente und weitgehend redundant durch den parallel verlaufenden Matterhorn-Express. Diese Kleinkabinenumlaufbahn befördert die Skifahrer und Wanderer üblicherweise in die faszinierende Gletscherwelt rund um Zermatt. Die meisten Touristen schenken dem längst vergessenen Pendelbahn-Klassiker daher nur dann Aufmerksamkeit, wenn der Matterhorn-Express in die jährliche Revision geht.
Und doch ist gerade diese Seilbahn für mich die vielleicht speziellste von allen. Das erste Mal fahre ich sie im Mai 1997, wenige Wochen vor meinem sechsten Geburtstag. Seilbahnen faszinieren mich schon damals, doch zu diesem Zeitpunkt kenne ich nur wenige Anlagen. Der Ausflug mit meinen Eltern nach Zermatt ist daher in vielerlei Hinsicht prägend. So viele spektakuläre Anlagen, sei es zum Schwarzsee, zum Trockenen Steg oder auf das Klein Matterhorn. Ein Seilbahn-Paradies, bei dem ich aus dem Staunen nicht mehr herauskomme. Die Luftseilbahn von Zermatt nach Furi ist das Tor zu dieser für mich völlig neuen Welt. Und mit ihr erreicht meine Begeisterung für Seilbahnen und deren Technik ein völlig neues Level.
Zur Historie der Zermatter Seilbahnen
Damals steht die Anlage noch stärker im Fokus der Öffentlichkeit. Der parallel verlaufende Vorgänger des heutigen Matterhorn-Express ist seinerzeit nicht so kapazitätsstark, sodass die Pendelbahn wann immer möglich Abhilfe schafft. Ihrerseits ist sie damals Teil einer Seilbahnkette von Zermatt via Furi und Furgg zum Trockenen Steg, die in den Jahren 1964 und 1965 den Betrieb aufnimmt. Bergbahnen kennt und schätzt man in Zermatt zu dieser Zeit bereits seit vielen Jahren. Die weltbekannte Gornergratbahn dringt bereits seit der Jahrhundertwende in über 3000 Meter über dem Meer vor. Von der Bergstation bietet sich ein fantastisches Panorama auf das Matterhorn und die umliegenden Gletscher.
Die Zahnradbahn am Gornergrat soll aber nicht die einzige Aufstiegshilfe bleiben. Noch in den 40er Jahren entstehen zunächst ein Schlepplift und später eine Sesselbahn nach Sunnegga. Ein Jahrzehnt später kommen erste Überlegungen auf, auch das Theodulgebiet am Fusse des Matterhorns durch Seilbahnen zu erschliessen. 1955 erhält Zermatt schliesslich die Konzession für eine Luftseilbahn in zwei Sektionen via Furi nach Schwarzsee. Zwei Jahre später können die Anlagen die ersten Gäste transportieren und erfreuen sich schnell grosser Beliebtheit. Jeweils 40 Personen können die Kabinen der beiden Anlagen transportieren. Den Auftrag für die Konstruktion erhält der Berner Seilbahnpionier Von Roll. Zahlreiche Gipfel in der Schweiz sind zu diesem Zeitpunkt bereits mit Anlagen des renommierten Herstellers erreichbar.
Italien vs. Schweiz am Matterhorn
Auch in Zermatt ist die Bahn nach Schwarzsee nicht die einzige, denn zur selben Zeit nimmt auch eine Luftseilbahn vom Gornergrat via Hohtälli zum Stockhorn den Betrieb auf. Bis in 3400 Meter Höhe dringt diese Anlage vor. Doch auch am Schwarzsee sollen die bestehenden Bahnen nicht lange alleine bleiben. Die Gletscherwelt des Theodulgebiets ist seit Jahrzehnten ein Sehnsuchtsort der Zermatter. Die touristische Erschliessung dieser Region ist in den 50er Jahren allerdings schon Realität.
Jedoch nicht von Zermatt aus. Von Breuil-Cervinia auf italienischer Seite entstehen Ende der 1930er Jahre mehrere Pendelbahnen bis nach Testa Grigia in 3480 Metern über dem Meer. Auch das Matterhorn selbst haben die Italiener damals im Visier. Zunächst ist aber eine kleine Schlittenseilbahn vom Trockenen Steg, der Talstation der heutigen Luftseilbahn auf das Klein Matterhorn, über den Theodulgletscher nach Testa Grigia geplant. Zermatt gestattet die Nutzung jedoch nur unter der Bedingung, dass die italienischen Betreiber auch eine Pendelbahn von Riffelberg zum Trockenen Steg erstellen. Zur Anbindung an die damals schon bestehende Gornergrat-Zahnradbahn.
Von Zermatt über Furi bis auf das Klein Matterhorn
Weil die Italiener aber bereits unmittelbar nach der Eröffnung der Pendelbahn von Cervinia nach Testa Grigia mit der Schlittenseilbahn Versuchsfahrten durchführen, ohne jedoch im Besitz einer gültigen Konzession der Schweizer Bundesbehörden zu sein, erklärt die Zermatter Burgergemeinde das Recht auf die Nutzung des Gletschers 1946 für verwirkt. Sie beschliesst, fortan ein eigenes Erschliessungsprojekt voranzutreiben, das mit den Luftseilbahnen nach Schwarzsee Realität wird.
Weil die Anlagen dem Besucherandrang aber nicht lange standhalten können, treibt man zu Beginn der 60er Jahre eine zweite Seilbahnachse voran, die kurz darauf den Trockenen Steg und damit den Rand des Theodulgletschers erreicht. 1979 findet dieses Projekt mit der Eröffnung der höchstgelegenen Luftseilbahn der Alpen auf dem Klein Matterhorn seine spektakuläre Vollendung. Fast alle dieser Zermatter Seilbahnklassiker sind über die Jahre verschwunden. Nur ein letzter Dinosaurier transportiert auch heute noch die Gäste auf der ersten Sektion von Zermatt nach Furi.
Eine letzte lebendige Erinnerung
Diese Pendelbahn ist damit über Jahre die letzte lebendige Erinnerung an die einstige Erschliessung der Zermatter Bergwelt in den 50er und 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Was die Anlage so besonders macht, das ist in dieser Zeit aber nicht nur ihr stattliches Alter von fast 60 Jahren. Dass sie nach so vielen Jahren optisch noch immer weitgehend im Originalzustand daherkommt, spricht für die Langlebigkeit der Konstruktion. Insbesondere die beiden Kabinen der Flug- und Fahrzeugwerke Altenrhein verleihen der Bahn ein einmaliges nostalgisches Antlitz. Nach einer zwischenzeitlichen roten Farbgebung kommen sie später wieder in dem charakteristischen Hellblau daher, das das Landschaftsbild rund um Furi, Schwarzsee und den Trockenen Steg während Jahrzehnten prägt.
Konstruiert wird die Anlage seinerzeit – man möchte schon fast sagen selbstverständlich – vom Eisen- und Stahlwerk Von Roll Bern. Es ist eine typische Pendelbahn für jene Zeit mit Doppeltragseilen auf beiden Fahrspuren und Kabinen für jeweils 80 Personen. Auf der zweiten Teilstrecke von Furi nach Furgg entsteht eine nahezu baugleiche Bahn, die dritte Sektion zum Trockenen Steg besitzt erstmalig in der Schweiz Kabinen für 100 Personen.
Zeitreise mit der Luftseilbahn Zermatt – Furi
Anders als die beiden oberen Sektionen kommt die Seilbahn von Zermatt nach Furi in recht unspektakulärem Gelände zum Stehen. Parallel zur bereits vorhandenen Bahn aus den 50er Jahren wird sie mit drei hohen Fachwerkstützen ausgestattet und überwindet auf einer Länge von rund 1,7 Kilometern 225 Höhenmeter. Das ist keineswegs rekordverdächtig. Doch ihre Lage ist vielleicht gerade der Grund dafür, warum sie so lange in dieser Form existiert. Ihre Schwesteranlage nach Furgg wird beim Bau der ersten beiden Sektionen des Matterhorn-Express nach Schwarzsee 2002 ersatzlos abgebaut. Sieben Jahre später ersetzt die Kleinkabinenumlaufbahn auch die dritte Teilstrecke zum Trockenen Steg. Dieser ist seither ohne Umstieg direkt von Zermatt aus erreichbar. Unbestreitbar ist diese Lösung weitaus komfortabler als der Weg mit den Pendelbahnen. Aber eben auch um Längen weniger stilvoll.
Gemeinsam mit der 1982 erstellten Direktverbindung von Furi zum Trockenen Steg bildet die Luftseilbahn Zermatt-Furi dagegen noch lange Zeit später eine zweite Achse zum Rand des Theodulgletschers. Eine Achse, die während der Revisionszeiten des Matterhorn-Express normalerweise jedes Jahr im Herbst einmal in den Fokus rückt. Dann nämlich ist die alte Dame den ganzen Tag über im Dauereinsatz. Skifahrer, Wanderer, Aussichtshungrige. Sie alle schweben mit der Luftseilbahn in Richtung Gletscher und Klein Matterhorn. Ein bisschen 1964 lässt sich in dieser Jahreszeit daher auch knapp sechs Jahrzehnte später noch erleben. Zeitreisen sind zwar nicht möglich. Aber eine Fahrt mit dieser Anlage ist ziemlich nahe dran.
Wiedersehen im Herbst
Immer wieder nutze ich daher in den letzten Jahren die Gelegenheit, der Bahn im Herbst einen Besuch abzustatten. Unzählige andere interessante Seilbahnen kreuzen während dieser Zeit meine Wege. Doch die Rückkehr an diesen Ort, an dem in Sachen Seilbahnen für mich irgendwie alles begann, ist Jahr für Jahr aufs Neue speziell. Doch der Herbst 2021 ist der letzte Ausflug dieser Art. Seinen 60. Geburtstag wird dieses Stück Schweizer Seilbahngeschichte nicht mehr feiern dürfen. Nachdem ein Ersatz durch eine neue Pendelbahn bereits längere Zeit angedacht ist, wird dieser im Sommer 2022 endgültig Realität.
Mit dem Wegfall dieses letzten Zeitzeugen der Ersterschliessung der Zermatter Bergwelt verschwindet auch einer der letzten grossen Seilbahnklassiker der 60er Jahre aus den Alpen. Viele tausende Fahrgäste hat die Anlage während Jahrzehnten sicher ans Ziel gebracht. Der röhrende Sound des Antriebs, die formschönen Kabinen, der nostalgische Flair. All das wird am Fusse des Matterhorns und in der Schweizer Seilbahnwelt insgesamt schmerzlich vermisst werden.
Weil der Matterhorn-Express zum 20. Betriebsjubiläum neue Kabinen erhält, ist die altehrwürdige Pendelbahn im Frühsommer 2022 aber noch ein letztes Mal im Dauereinsatz. Eine ungewöhnliche Jahreszeit. Doch für mich steht ausser Frage, dass ich noch ein letztes Mal mit einer der beiden blauen Kabinen nach Furi schweben möchte. Die knarzenden Türen, der Fahrtwind an den Fenstern auf der Stirnseite der Kabine, das sanfte Rauschen des Laufwerks bei den Stützenüberfahren. Ein letztes Mal möchte das erleben.
Eine letzte Fahrt von Zermatt nach Furi
Und so kommt es, dass ich fast auf den Tag genau 25 Jahre nach meiner ersten Fahrt wieder einmal an der Talstation der Luftseilbahn an der Schluhmatte in Zermatt stehe. Die Vorbereitungen für den Neubau sind bereits in vollem Gange. Doch der Baulärm stört nicht wirklich. Zu gross ist die Freude, die Luftseilbahn noch einmal bei perfekten Wetterbedingungen ablichten zu können. Die formschönen Kabinen vor dem frisch verschneiten Matterhorn. Ein Motiv, das sich kaum schöner als an diesem Tag, einem der letzten in der Geschichte der Luftseilbahn, präsentieren könnte. Es ist ein würdiger Abschied von dieser Seilbahn-Legende.
Und nun, wo ich diese Zeilen schreibe, befördert die Luftseilbahn Zermatt – Furi am Nachmittag des 19. Juni 2022 nach 58 Jahren tadellosem Betrieb zum letzten Mal in ihrem Leben Fahrgäste. Gewiss wird auch die Ersatzanlage ihren Platz in der Seilbahngeschichte finden. Doch eine Legende wie die alte Bahn, ihres Zeichens Auftakt zu einer bis heute weltweit unerreichten Gebirgserschliessung durch Seilbahnen, eine solche wird es wohl nie wieder geben. Mindestens nicht für mich persönlich. Mit keiner anderen Seilbahn war ich emotional stärker verbunden als mit dieser Anlage, die meine Begeisterung für Seilbahnen ausgelöst und mein Leben damit mehr geprägt hat als jede andere. Und so wird die Luftseilbahn Zermatt – Furi irgendwie doch noch weiterleben. In der Erinnerung, in Form von Fotografien und Filmen. Legenden sterben eben nie.
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Felix ist Fotograf und Autor, spezialisiert auf Landschafts- und Reisefotografie und zu Hause im Saarland und der ganzen Welt. Wenn er nicht gerade in der Natur oder den Bergen unterwegs ist, schreibt er hier über seine Reisen, die Fotografie oder über sein liebstes Fortbewegungsmittel, die Seilbahn.