Wenn die breite Bevölkerung ans Skifahren denkt, dann verbindet sie damit meist landschaftlich wenig ursprünglich gebliebene Regionen mit massiver Infrastruktur. Pisten mit Geländekorrekturen, Beschneiungsanlagen mit kilometerlangen Wassersystemen, Hochleistungsseilbahnen. Auf Menschenmassen ausgerichtete Freizeitparks im Hochgebirge, die dazu meist ein Naturerlebnis bewerben, das sie gerade nicht bieten. Die Norm ist das glücklicherweise nicht. Noch immer sehen die meisten Skigebiete in den Alpen anders aus als auf den Bildern, die sich durch die teils einseitige mediale Berichterstattung in den Köpfen manifestiert haben.
Industrieskigebiete – Retortenstädte in den Alpen
Dennoch, alpenweit sind derartige Industrieskigebiete, wie ich sie gerne in Anlehnung an ihren fabrikähnlichen Charakter nenne, nicht selten anzutreffen. In den Ostalpen noch meist kaschiert durch schöne Chaletfassaden aus Holz, täuschen weiter westlich nicht einmal die Dörfer im Tal über den eigentlichen Zweck dieser Gebiete hinweg. Die Masse soll auf den Berg, die Kasse soll klingeln.
Das Phänomen ist dabei aber keineswegs neu. Schon in den 1960er Jahren entstehen speziell in den französischen Alpen unzählige vom Reissbrett geplante Skistationen. Die „station integrée“ sieht vor, dass die Gäste bei der Anreise mit dem Auto vor den Appartementblock fahren und während des Aufenthalts auf der Rückseite förmlich auf die Skipiste fallen. Für den täglichen Bedarf sind sämtliche Annehmlichkeiten fussläufig erreichbar. Ein ausgeklügeltes Konzept, das mit Förderung der französischen Regierung zu einem echten Erfolgsmodell wird.
Einzig fürs Auge sind die Hochhausbauten und ihre Begleiterscheinungen ein zweifelhafter Genuss. Doch die Retortenstationen in den französischen Alpen wirken teils so grotesk, dass Ihnen schon wieder eine gewisse Originalität nachgesagt werden kann. Und so haben die künstlichen Städte im Gebirge irgendwie ihren Reiz. Vor allem dann, wenn die Infrastruktur längst aus der Zeit gefallen ist. Das ist auch der Grund für meinen Besuch in Serre Chevalier. In dem traditionsreichen Skiort am Fusse des Col du Lautaret drehen gleich mehrere historisch bedeutsame Seilbahnen ihre Runden.
Ein Kultobjekt der Seilbahnwelt
Es sind Seilbahnen aus längst vergangenen Zeiten, die die Entwicklung des französischen Skigebietsmodells einst geprägt haben. Heute sind sie an den meisten Orten längst moderneren Aufstiegshilfen gewichen. In Serre Chevalier dagegen sind die ratternden Oldtimer dagegen immer noch im Einsatz. Eine von ihnen steuere ich gleich zu Beginn eines sonnigen Frühlingstags Ende März an. Die Télécabine de Fréjus ist mit Baujahr 1968 die heute älteste Vertreterin der liebevoll als Eiergondelbahn bezeichneten Kleinkabinenumlaufbahnen in Europa.
Ein Kultobjekt, das auf eine Idee des französischen Seilbahnherstellers Poma zurückgeht. Nur ganz wenige Exemplare sind auch heute noch im Originalzustand in Betrieb. Und mit ihren gelben Ostereiern und den hellblau gestrichenen Fachwerkstützen ist die Fréjus-Kabinenbahn zweifelsohne eine der schönsten Nostalgie-Seilbahnen überhaupt. Wie sich Skifahren vor über einem halben Jahrhundert angefühlt hat, lässt sich hier auch heute noch live erleben.
Mit der Eiergondelbahn auf das Fréjus-Plateau
Allein schon der Weg vom Kassengebäude in die Talstation mit ihrer ohrenbetäubend lauten Antriebsanlage ist ein Erlebnis für sich. Eine gelbe Kabine nach der anderen durchfährt den Stationsumlauf, gestützt durch die kleinen Rollen an der Kuppelklemme, die diesem Seilbahntyp einst zum Durchbruch verhilft. Zwei Klemmapparate pro Kabine bringen mit ihren Tellerfedern die nötige Kraft auf, um die Fahrzeuge automatisch ans umlaufende Förderseil zu klemmen und wieder zu lösen.
Im hinteren Teil des Stationsumlaufs reihen sich die Eiergondeln schliesslich aneinander, um dort die Wintersportler in Empfang zu nehmen. Maximal vier Personen finden in einer Kabine Platz, dann wird’s allerdings schon sehr gemütlich. Und kaum sind die Fahrgäste zugestiegen, beschleunigen die Fahrzeuge auf einer abschüssigen Strecke auf Seilgeschwindigkeit und treten die Fahrt über die spektakuläre Strecke von Villeneuve auf das mehr als 600 Meter höher gelegene Fréjus-Plateau an. Die Anlage nimmt gemeinsam mit fünf weiteren Schleppliften als Erweiterung des bereits bestehenden Skigebiets von Serre Chevalier den Betrieb auf. Auf dem Gebiet zwischen der Stadt Briançon und dem Col du Lautaret entsteht auf Höhe der Ortschaft Chantemerle bereits während des Zweiten Weltkriegs eine der ersten grossen Luftseilbahnen Frankreichs. In zwei Sektionen erschliesst sie fortan den namensgebenden Serre-Chevalier-Gipfel. Etwas weiter talaufwärts wird in Villeneuve ein Jahrzehnt später eine Kleinkabinenumlaufbahn nach Aravet eröffnet, in deren Nähe schliesslich auch die Fréjus-Kabinenbahn ihren Betrieb aufnimmt.
Der erste Höhepunkt von Serre Chevalier
Mitsamt einer Rettungsbahn im unzugänglichen mittleren Streckenteil und ihren vielen Gefällsbrüchen ist die Anlage bereits zum Zeitpunkt ihrer Eröffnung eine der spektakulärsten der Alpen. Die Strecke der Kabinenbahn Fréjus gliedert sich dabei in vier gänzlich unterschiedliche Abschnitte. An einen flachen Beginn schliesst sich ein sehr steiler Zwischenteil im Wald an. Auf der zweiten Streckenhälfte geht es dann zunächst nochmal ein gutes Stück bergab, bevor die Mutter aller Niederhaltestützen schliesslich den Schlussanstieg zur Bergstation einläutet. Nicht weniger als 32 Rollen befahren die Kabinen an dieser markanten Fachwerkkonstruktion, die schon von weitem gut zu hören ist und bis heute ihresgleichen sucht.
Vollautomatisch verkehren die Kabinen auf der Strecke und in den Stationen. Ein Novum zur damaligen Zeit, denn andere Hersteller setzen zu diesem Zeitpunkt noch auf eine manuelle Türöffnung durch das Personal. Bei den Eiergondeln wird zum Ein- und Ausstieg einfach die Schale auseinandergeklappt. Die Fahrgäste schlüpfen in der Folge wie ein Küken aus dem Ei. Ein Kuriosum, das während Jahrzehnten ein Synonym für die französischen Alpen darstellt.
Flaches Terrain zum Einfahren
Ein weiteres solches Kuriosum ist an diesem Morgen mein nächstes Ziel. Luftlinie nur wenige hundert Meter von der kultigen Eiergondelbahn entfernt startet mit dem DMC Pontillas gleich noch ein zweiter Zubringer von der Ortschaft Villeneuve ins Skigebiet Serre Chevalier. Eine Kabinenumlaufbahn mit zwei parallelen Förderseilen, die auf eine Erfindung des französischen Ingenieurs Denis Creissels zurückgeht. Eine Kombination aus Pendelbahn und Umlaufbahn, die einerseits jede Art von Trassierung zulässt und gleichzeitig hohe Förderleistungen ermöglicht.
Doch zuvor erkunde ich mit einer Fahrt an den Schleppliften Crêtes und Méa das Plateau, das die Fréjus-Kabinenbahn erschliesst. In der nördlichen Hälfte des Skigebiets Serre Chevalier gelegen bedienen die Schlepplifte überwiegend flache Hänge in Kessellage. Die Pisten in diesem Bereich stellen keine allzu hohen Ansprüche an die Wintersportler, zum Einfahren sind sie aber ideal. Die Aussicht kann sich trotz der miserablen Schneelage ebenfalls sehen lassen.
Die Beschneiungsanlage in diesem Bereich wirkt Wunder. Wie es ohne künstlich erzeugtes Weiss aussieht, lässt sich eine Etage weiter oberhalb erahnen. Der Schlepplift Eychauda, der den höchsten Punkt der gesamten Skiregion erschliesst, ist in diesem Winter noch nicht einen Tag in Betrieb gewesen. So sammeln sich die Skifahrer an den geöffneten Liften, die trotz der frühen Uhrzeit dementsprechend bereits rege frequentiert werden.
DMC Pontillas – Wegweisender Seilbahn-Prototyp
Auf dem Weg zu meinem nächsten Seilbahnziel sinkt die Zahl der Pistenbenützer dann aber rapide. Kein Wunder, denn das DMC Pontillas führt heute, knapp 40 Jahre nach seiner Eröffnung, nur noch ein Schattendasein. Eigentlich erfolgt die Entwicklung des Doppelseilsystems im Hinblick auf einen Einsatz in schroffem Gelände. Zwei Seile lassen grössere Kabinen und Abstände zwischen den Stützen zu. Entsprechend monströs fallen die Anlagen aus, können aber dank der langen Spannfelder problemlos in jedem denkbaren Gelände eingesetzt werden.
Der Prototyp von Villeneuve kommt 1984 dagegen an einem Ort zum Stehen, an dem eigentlich auch ein konventionelles System problemlos betrieben werden könnte. Es ist nur allzu offensichtlich, dass Creissels gemeinsam mit dem Konstrukteur Poma den Prototyp gerne ausgiebig unter realen Bedingungen testen möchte, bevor das System an anderer Stelle in schroffem Relief eingesetzt wird. Für Villeneuve ist die neue Seilbahn damals aber trotzdem ein Segen. Die zusätzliche Förderleistung wird angesichts der Kapazitätsengpässe bei den bestehenden Seilbahnen dringend benötigt. Gleichzeitig entsteht zur selben Zeit eine neue Verbindung mit dem benachbarten Skigebiet von Le Mônetier-les-Bains, von der man sich zusätzliche Frequenzen erhofft. Das DMC ermöglicht fortan den Zugang in diesen neu geschaffenen Sektor des Skigebiets.
Durch den Bau zahlreicher neuer leistungsstarker Anlagen wird die einstige Kapazität mittlerweile aber nicht mehr benötigt. Ein Teil der Kabinen ist daher gar nicht mehr im Einsatz. Seit dem Abbau der einstigen zweiten Sektion in Form einer Sesselbahn endet die Anlage zudem mitten im Nirgendwo. Von der Bergstation aus ist ausschliesslich die Talabfahrt erreichbar, ins restliche Skigebiet führt der Weg nur noch über die anderen Zubringeranlagen von Villeneuve. Die Bahn erfüllt daher keinen ernstzunehmenden Zweck mehr, sodass ein Ersatz auf neuer Trasse nur noch eine Frage der Zeit ist. Grund genug also, sie in Form von Fotos und Videos für die Nachwelt festzuhalten.
Die 900-Höhenmeter-Sesselbahn Casse du Boeuf
Mangels Alternativen führt mich der Weg von der Bergstation des DMC erneut zurück nach Villeneuve. Vorbei an den Übungsanlagen ist es diesmal die Sesselbahn Casse du Boeuf, die mein Interesse weckt. Und das nicht nur wegen ihres klingenden Namens, sondern vor allem aufgrund der Tatsache, dass diese Sesselbahn fast 900 Höhenmeter auf knapp drei Kilometern Streckenlänge überwindet. Richtig gelesen, die Bergstation liegt mit 2322 Metern über dem Meer tatsächlich 870 Meter höher als die Talstation. Und diese Distanz überwinden die Sessel ohne Zwischenstation und ohne doppelten Boden. Im Winter wie im Sommer geht es spetakulär durch den Wald und über tiefe Felseinschnitte nach oben, während die 28 Stützenüberfahrten bei Frankreich-typisch voller Fahrgeschwindigkeit für einen einmaligen Sound sorgen.
Eigentlich ist die Anlage in erster Linie ein weiterer Zubringer von Villeneuve in das obere Stockwerk des Skigebiets Serre Chevalier. Sie bedient aber auch eine durchgängig steile und anspruchsvolle Abfahrt auf direkter Linie zurück ins Tal. Dank Beschneiungsanlage ist die Piste als eine der wenigen weitgehend frei von Steinen, allerdings an diesem Vormittag noch pickelhart gefroren. Mit meinen stumpfen Kanten benötige ich daher nicht viele Schwünge, bevor ich schon wieder an der nächsten Talstation stehe.
Aravet – Die zweite Eiergondelbahn von Serre Chevalier
Erneut in Villeneuve und erneut an einem weiteren Zubringer ins Skigebiet. Mit der Télécabine de l’Aravet ist gleich noch eine zweite Poma-Eiergondelbahn an diesem Ort im Einsatz. Mit Baujahr 1975 ist sie etwas jünger als ihr Pendant am Fréjus und auch weit weniger spektakulär trassiert. Die Anlage verkörpert aber auch heute noch die wilde Aufbruchzeit der 70er Jahre in den Alpen. Das Gebäudeensemble mit schuhkartonförmiger Talstation und Appartementblöcken verleiht dem Ortsteil ein typisch frankophones Antlitz. Skishops, Souvenirläden, die Bar im Keller der Talstation. Der typische Gravillon auf den Gehsteigen. Und natürlich der unschlagbare Sound der Poma-Eier. Hier passt auch nach einem halben Jahrhundert noch alles zusammen.
Technische Besonderheiten sucht man auf der Anlage mehrheitlich vergeblich. Anders als viele andere Hersteller zu jener Zeit hat Poma seine Produkte bereits so weit standardisiert, dass sie in jeweils ähnlicher Form an unzähligen Hängen ohne grössere Anpassungen den Betrieb aufnehmen können. Entsprechend besitzt auf die Kabinenbahn Aravet einen lauten Antrieb in der Talstation, während das Förderseil per Gegengewicht am Berg abgespannt wird. Und doch besitzt sie heute eine gewisse Besonderheit. Denn die weissen Eiergondeln sind nicht mehr diejenigen aus dem Jahr 1975. Doch sie sind auch nicht jüngeren Datums, sondern sogar noch ein Stück älter als die Bahn selbst. Weil die Originale starke Gebrauchsspuren aufweisen, entschliesst man sich beim Ersatz der ursprünglich 1973 eröffneten Kabinenbahn Grand Alpe im Nachbarort Chantemerle dazu, deren Fahrzeuge weiterzuverwenden. Die weissen Kabinen sind noch in besserem Zustand und erhalten daher an der Aravet-Kabinenbahn ein zweites Leben.
Wechsel zwischen zwei Welten
So rumpeln die Eier auch ein halbes Jahrhundert später noch immer in Serre Chevalier über die Stützen. Die Akustik ist Poma-typisch einmalig, wenn es mit 4 m/s über die Rollenbatterien hinweg- oder in die Stationen hineingeht. Die Technik, die in den 60er und 70er Jahren das Non-Plus-Ultra der Seilbahnwelt darstellt, ist hier heute noch immer tadellos im Einsatz. Ein so langes Leben ist dem Vorgänger der heutigen Anlage übrigens nicht vergönnt. Bereits 1957 nimmt an dieser Stelle eine erste kuppelbare Viererkabinenbahn den Betrieb auf. Ausgestattet mit Schraubklemmen von Müller ist sie aber schon bald dem Besucheransturm nicht mehr gewachsen und wird daher durch das leistungsstärkere Poma-Modell ersetzt. 900 Personen kann die Anlage maximal transportieren und überwindet auf einer Streckenlänge von zwei Kilometern rund 600 Höhenmeter.
Weiter hinauf geht es seit dem Jahr 2005 mit einer kuppelbaren Sechsersesselbahn desselben Herstellers. Die Sesselbahn Forêt ist seinerzeit Ersatz für mehrere kuppelbare Stangenschlepplifte und könnte kein grösserer Kontrast zur ersten Sektion sein. Bequeme Sitze, kein Rumpeln bei den Stützenüberfahrten. Sonnengegerbtes Holz an den Kompaktstationen statt morbidem Charme hinter vergilbten Fenstern. Ein Wechsel zwischen zwei Welten, der das Skigebiet von Serre Chevalier irgendwie einmalig macht.
Le Monêtier-les-Bains – Gar nicht so retortenartig
Nächstes Ziel auf der Agenda: Le Monêtier-les-Bains. Der nördlichste Zugangspunkt in das Skigebiet von Serre Chevalier befindet sich in gut 1400 Metern Höhe. Bereits seit den 40er Jahren wird hier skigefahren. Damit ist der Ort anders als die meisten benachbarten Zugangspunkte keine klassische Retortenstation, sondern ein ursprünglich gebliebenes Bergdorf an der Strasse zum Col du Lautaret.
Verbunden ist es mit dem restlichen Skigebiet über den Col de la Cucumelle. Dieser Passübergang wird von zwei Seiten durch Sesselbahnen erschlossen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. 2010 erstellt die Schweizer Firma Bartholet an dieser Stelle eine ihrer ersten kuppelbaren Anlagen überhaupt. Eine weit über zwei Kilometer lange Sechsersesselbahn startet unterhalb des Fréjus-Plateaus und führt durch ein weitläufiges und landschaftlich reizvolles Hochtal zu besagtem Passübergang. Mit einer Fahrgeschwindigkeit von 5,5 m/s ist die Sesselbahn Vallons zum Zeitpunkt ihrer Eröffnung eine der schnellsten Sesselbahnen der Welt.
Die Rückseite wird dagegen von einer fast drei Dekaden älteren fix geklemmten Vierersesselbahn erschlossen. Mit gerade einmal 400 Metern Länge ist sie eine reine Verbindungsanlage. Die Sesselbahn Vallons eignet sich im Gegensatz dazu auch bestens für Wiederholungsfahrten.
Allein im Skigebiet Serre Chevalier
Für mich geht es vom Col de la Cucumelle allerdings zunächst einmal zum nächsten Passübergang. Luftlinie nur wenige hundert Meter entfernt liegt die Bergstation der Sesselbahn Col de l‘Eychauda, der zweiten Sektion einer Sesselbahnkette von Le Monêtier-les-Bains bis in 2450 Meter Höhe. Rund 1000 Höhenmeter Abfahrt liegen zwischen diesem Punkt und der Ortschaft im Tal. Zahlreiche verschiedene Pistenvarianten stehen den Wintersportlern hier zur Verfügung. Normalerweise zumindest, denn aufgrund der suboptimalen Schneelage ist auch hier nur ein Bruchteil der Abfahrten geöffnet.
Und so ist auch ein Teil der Anlagen im unteren Bereich des Skigebiets gar nicht in Betrieb. Zwei fix geklemmte Vierersesselbahnen ergänzen den Hauptzubringer Bachas in der Hochsaison. Entsprechend voll dürfte es dann auf den Abfahrten werden. Heute dagegen muss man andere Menschen schon gezielt suchen, denn wie schon am Vortag in La Clusaz drehen abgesehen von den Übungsanlagen die meisten Seilbahnen leer ihre Runden.
Nostalgiefreuden am Schlepplift Clot de l’Étoile
Das ist auch am Schlepplift Clot de l’Étoile nicht anders. Der Höhepunkt von Le Monêtier-les-Bains in nostalgischer Hinsicht erschliesst ebenfalls redundant einige Abfahrten im Bereich der Sesselbahn Bachas. Warum er überhaupt in Betrieb ist, erschliesst sich mir nicht. Die einzige geöffnete Abfahrt ist genauso gut mit der Sesselbahn erreichbar, die im Wald versteckte Talstation des Schlepplifts dagegen nur mit Mühe auf letzten Schneeresten.
Doch mir soll es gerade recht sein, denn als einer der letzten Poma-Schlepplifte überhaupt besitzt dieses Exemplar noch eine original aus den 1960er Jahren erhaltene Fachwerktalstation. Die anschliessende ruppige Fahrt ist ein Nostalgieerlebnis par excellence. Regelrecht idyllisch geht es inklusive obligatorischer Kurve durch den lichten Nadelwald.
Der landschaftlich spannendeste Teil von Serre Chevalier
Notgedrungen fahre ich im Anschluss einmal nach Le Monêtier-les-Bains ins Tal, um im Anschluss mit der Sesselbahn Bachas wieder das Plateau im Mittelteil des Skigebiets zu erreichen. Drei weitere Sesselbahnen erschliessen dort die obere Etage in spektakulärem Gelände. Sowohl hinsichtlich der Landschaft als auch in Bezug auf die Pisten ist Le Monêtier-les-Bains ohne jeden Zweifel der spannendste Teil von Serre Chevalier. Kein Wunder, denn der Nationalpark Écrins liegt nur wenige hundert Meter entfernt.
Aus Zeitgründen kann ich leider nicht länger hier verweilen. Die Sesselbahn Cibouit lasse ich daher trotz ihrer reizvoll anmutenden Abfahrten in dem kesselartigen Hochtal aus. Technisch interessanter ist ohnehin die benachbarte Sesselbahn Yret. Erst in den 1980er Jahren erfolgt eine Erweiterung des Skigebiets von Le Monêtier-les-Bains über die Bergstation der Sesselbahn Bachas hinaus. Die Sesselbahn Yret entsteht daraufhin als Höhepunkt dieser Neuerschliessung und gleichzeitig als Verbindung mit Villeneuve und dem Rest des Skigebiets Serre Chevalier.
Transatlantische Kooperation am höchsten Punkt von Le Monêtier-les-Bains
Sie erreicht dabei nicht nur mit 2750 Metern über dem Meer den bis heute höchsten Punkt im Skigebiet Serre Chevalier, sie ist mit ihrer Trassierung auch die mit Abstand spektakulärste Sesselbahn auf weiter Flur. Mit bis zu 89% Steigung geht es in eigentlich völlig ungeeignetem Terrain mehr als 600 Höhenmeter bergauf, bevor vorbei an einer wenig vertrauenserweckenden Rettungsbahn ein Plateau erreicht ist.
Von hier bietet sich nicht nur eine fantastische Aussicht auf das Massif des Ecrins und den erwähnten Nationalpark. Die Bergstation ist auch Ausgangspunkt zu einer Vielzahl von Abfahrtsmöglichkeiten auf und neben den markierten Pisten. Aber auch aus seilbahntechnischer Sicht ist diese frühe Skirail-Sesselbahn mit ihrer vom amerikanischen Hersteller Yan Lifts inspirierten Konstruktion eine Fahrt definitiv wert. Die transatlantische Kooperation zwischen den USA und Frankreich ist hier auch heute noch gut erkennbar.
Quer durch Serre Chevalier bis zum Col de Prorel
Über eine erneut lohnende, anspruchsvolle Abfahrt und die Sesselbahn Cucumelle erreiche ich wieder den Sektor Villeneuve. Mein nächstes Ziel liegt allerdings noch ein gutes Stück entfernt. Den Nachmittag möchte ich nutzen, um auch noch in den südlichsten Teil von Serre Chevalier vorzudringen. Ende der 1980er Jahre entsteht hier ein vom Reissbrett geplanter neuer Skigebietsteil oberhalb der Stadt Briançon. Ein Retortenskigebiet, bestehend aus einer langen und monströsen Kabinenbahn sowie mehreren Sesselbahnen und Schleppliften. Der nächste starke Kontrast zum konventionell und kontinuierlich entstandenen Sektor Le Monêtier-les-Bains.
Dank der schnellen kuppelbaren Sesselbahnen ist der fliegende Wechsel vom einen zum anderen Ende des Skigebiets schneller vollzogen als gedacht. Die Sesselbahn Côte Chevalier bringt mich unter der Fréjus-Kabinenbahn hindurch auf das Plateau unterhalb des namensgebenden Serre-Chevalier-Gipfels. Nach einer weiteren Fahrt quer durch den Sektor Chantemerle benötige ich nur noch eine weitere Anlage. Die Sesselbahn Col de Prorel bringt mich zum gleichnamigen Passübergang und damit in den Sektor von Briançon.
Briançon und die Erschliessung vom Reissbrett
Auf der Rückseite werkeln zwei fix geklemmte Vierersesselbahnen an weitgehend südlich ausgerichteten Hängen. Entsprechend weich ist der Schnee hier bereits und erneut bin ich der weitgehend einzige Wintersportler, der hier unterwegs ist. Die kurze Sesselbahn Croix de la Nore bringt mich schliesslich zur Bergstation der Hauptattraktion in diesem Bereich – die Kabinenbahn Prorel. Die Anlage ist mit ihrem monumentalen Erscheinungsbild ein beeindruckendes Stück Technik. Über 1100 Höhenmeter schweben die Kabinen direkt von der Stadt Briançon in zwei Sektionen über die Zwischenstation Pra Long den Berg hinauf. Die Station Pra Long beherbergt nicht nur die Antriebsanlagen beider Sektionen, sondern auch die Kabinengarage. Entsprechend monströs fällt der Komplex aus und prägt das Landschaftsbild bereits von weitem. Beide Antriebe zusammen bringen es auf rund 1800 PS und sorgen für eine entsprechende Akustik.
Der zweite Teilabschnitt ist der für Skifahrer bedeutendere. Auf dieser Sektion bedient die Kabinenbahn auch mehrere lange Abfahrten mit beträchtlicher Höhendifferenz, redundant ergänzt durch weitere Schlepplifte. 728 Höhenmeter überwinden die Kabinen auf diesem Abschnitt und dringen letztlich bis in eine Höhe von 2355 Meter über dem Meer vor. Konstrukteur der Anlage ist wie so häufig zu jener Zeit bei derart leistungsfähigen Kabinenbahnen die Firma Poma. Weder der Hersteller noch der Auftraggeber machen einen Hehl daraus, dass die Anlage einen einzigen Zweck verfolgt. Möglichst viele Wintersportler soll sie auf den Berg befördern, Ästhetik und Komfort sind offenkundig zweitrangig. Und so setzt Poma zwölfplätzige Stehkabinen ein, die stündlich bis zu 2400 Personen transportieren können. Ein für die 80er Jahre schon fast rekordverdächtiger Wert.
Pistenerschliessung mit Kollateralschäden
Die Strecke der zweiten Sektion ist auf weiten Teilen geprägt von lichten Lärchenwäldern. Erst im letzten Streckendrittel passieren die Kabinen die Baumgrenze und schweben in der Folge über einen kontinuierlich flacher werdenden Bergrücken. Auch von weiter unterhalb ist der Ausblick auf Briançon und die umliegenden Berge aber sehenswert. Zeit für einen Panoramagenuss ist während der Fahrt auf jeden Fall ausreichend, denn auch bei maximaler Geschwindigkeit ist man für die gesamte Strecke letztlich doch fast zwölf Minuten unterwegs. Optisch ist auch die Bergstation der Anlage definitiv gewöhnungsbedürftig. Doch sie repräsentiert den Zeitgeist der 80er Jahre, als es eben vor allem darum ging, möglichst viele Menschen schnell auf den Berg zu befördern. Mit manchen nur zu gut sichtbaren Kollateralschäden.
Bei besserer Schneelage dürften die unzähligen Abfahrten in diesem Bereich über diesen Umstand hinwegtäuschen. Bei der heute anzutreffenden Mischung aus Sulz und Steinen auf den wenigen überhaupt geöffneten Abfahrten ist die Freude allerdings überschaubar. So trete ich – auch aus Zeitgründen – schon bald wieder den Rückzug zum Col de Prorel an. Ich erreiche ihn mit der kurzen Sesselbahn Rocher Blanc.
Die heutige Anlage an dieser Stelle ersetzt einen Vorgänger des gleichen Typs auf neuer Trasse. Die damalige Sesselbahn ist deutlich länger und stellt ursprünglich die zweite Sektion einer Zubringerkette von der Ortschaft Puy Chalvin dar. Die untere Teilstrecke auf dem sonnenexponierten Südhang beweist aber, dass auch Skigebietsplanungen vom Reissbrett nicht immer aufgehen müssen. Mangels Schnee wird die Sesselbahn gar nicht erst eröffnet, sondern schon kurz nach der Fertigstellung wieder abgebaut und verkauft.
Der historische Sektor Chantemerle
Zurück im mittleren Teil des Skigebiets Serre Chevalier möchte ich abschliessend noch dem Sektor Chantemerle einen kurzen Besuch abstatten. Noch während in Europa der Zweite Weltkrieg tobt, nimmt in diesem kleinen, beschaulichen Bergdorf an der Passstrasse zum Col du Lautaret 1941 eine der ersten grossen Luftseilbahnen Frankreichs den Betrieb auf. In zwei Sektionen erstellt der Seilbahnkonstrukteur Applevage eine Pendelbahn auf den Serre-Chevalier-Gipfel. Unzählige weitere Ergänzungsanlagen folgen daraufhin, sodass Chantemerle schon in den 1960er Jahren neben Villeneuve einen der Dreh- und Angelpunkte des Skigebiets bildet.
Diese Tatsache ist auch heute noch unübersehbar. Die Geländekorrekturen fallen in diesem Sektor so aus, wie man sie in einem echten Industrieskigebiet erwartet. Entsprechend wenig reizvoll sind die Abfahrten entlang der Pendelbahn, die übrigens heute aufgrund der kapazitätsstärkeren Parallelanlagen im Winter gar nicht mehr in Betrieb ist. Nur noch auf der zweiten Sektion sind die charakteristischen Fachwerkstützen von Applevage erhalten, der Rest der Technik stammt seit einem Brand Mitte der 1980er Jahre von Poma.
Wenig erquickliche letzte Schwünge im Sulz
Im Fokus der Skifahrer stehen daher drei Sektionen Sechsersesselbahn bis zum Gipfel, eine Kabinenbahn als Ersatz für die Pendelbahn auf der ersten Sektion, eine weitere Vierersesselbahn sowie unzählige kleinere Übungslifte. Bis heute geblieben sind mit den beiden parallelen Schleppliften Bois des Coqs aber auch zwei anspruchsvolle und steile Anlagen, die erneut einen willkommenen Kontrast bilden. Selbstredend lege ich dort noch eine Wiederholungsfahrt ein, bevor ich den Tag an den genannten Sesselbahnen beschliessen möchte.
Eine Talabfahrt bis nach Chantemerle hinab geht sich zeitlich nicht mehr aus, ist angesichts der tiefen Sulzbuckel aber auch kein wirklicher Verlust. Die betagte Sesselbahn Orée du Bois katapultiert mich noch einmal den Berg hinauf, bevor ich schliesslich mit den deutlich moderneren Sesselbahnen Combes und Grand Serre zum Tagesabschluss den Gipfel des Serre Chevalier erreiche. Alle drei Anlagen stammen von Poma, allerdings aus völlig unterschiedlichen Epochen.
Wirklich prickelnd sind die letzten Schwünge trotz der sehenswerten Aussicht vom Gipfel nicht mehr. So mache ich mich wenige Minuten vor Betriebsschluss auf den Weg zurück nach Villeneuve, das ich vom Serre-Chevalier-Gipfel auf direktem Weg erreichen kann. Ein paar Umwege lege ich dann aber doch noch ein, vorrangig um noch einige Aufnahmen der kultigen Fréjus-Kabinenbahn zu machen. Gemeinsam mit den letzten Eiern erreiche ich wieder meinen Ausgangspunkt im Tal.
Serre Chevalier – Eine sympatische Retortenstation
Ein langer und anstrengender Skitag nimmt damit sein Ende. Eigentlich wäre Serre Chevalier kein Skigebiet, das für mich ganz oben auf der Agenda steht. Wären da nicht die einmaligen und nostalgischen Seilbahn-Kultobjekte, für die ich die weite Anreise gerne in Kauf nehme. Und doch stellt sich heraus, dass auch ein klassisches Industrieskigebiet durchaus seinen Reiz haben kann. Die völlig konträren Bereiche des Skigebiets wollen irgendwie nicht so ganz zusammenpassen.
Und genau diese Imperfektion macht das Skigebiet so verlockend. Da die alte Eiergondelbahn und das dazu passende Ambiente aus den 70er Jahren, dort die moderne Sesselbahn. Die hochalpine und ursprüngliche Landschaft in Le Monêtier-les-Bains als Gegenstück zu den künstlich optimierten Hängen in Briançon und Chantemerle. Dazwischen Villeneuve als Katalysator. Verbunden über lange Abfahrten, auf denen grosse Distanzen bewältigt werden. Eine ziemlich einmalige Struktur, die aus dem Pistenplan auf den ersten Blick nicht hervorzugehen mag. Aber auch ohne die technisch interessanten Seilbahnen ist Serre Chevalier einen Besuch wert. Manchmal sind eben auch Industrieskigebiete sympathisch.
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Felix ist Fotograf und Autor, spezialisiert auf Landschafts- und Reisefotografie und zu Hause im Saarland und der ganzen Welt. Wenn er nicht gerade in der Natur oder den Bergen unterwegs ist, schreibt er hier über seine Reisen, die Fotografie oder über sein liebstes Fortbewegungsmittel, die Seilbahn.