Graubünden ist als meine zweite Heimat eine der Gegenden der Alpen, die für mich auch in Sachen Seilbahnen und Skifahren einen besonderen Stellenwert besitzt. Nahezu sämtliche Skigebiete im Land der Steinböcke habe ich mittlerweile besucht. Gerade erst habe ich mit meinem Besuch im Val Müstair die Liste annähernd komplettiert. Doch eine letzte Ausnahme gibt es noch. Das Skigebiet von Sedrun, ganz am Ende der Surselva gelegen, kenne ich bislang nur vom Vorbeifahren.
Eigentlich steht Sedrun schon seit dem Jahr 2005 auf meiner Agenda. Damals will ich der kultigen Einersesselbahn Cungieri in ihrem letzten Betriebssommer einen Besuch abstatten. Doch das Wetter macht mir seinerzeit einen Strich durch die Rechnung. Nach dem Abbau dieser einzigartigen Anlage sind in den Folgejahren stets dringendere Ausflüge in andere Regionen vorrangig. Insbesondere, weil auch mehrere der einst zahlreichen Städeli-Schlepplifte nach und nach austauschbaren, modernen Plastiksesselbahnen weichen müssen.
Sedrun und die Porta Alpina
Überhaupt ist in Sedrun heute eigentlich nichts mehr so wie im Jahr 2005. Denn nicht nur die Seilbahnen im Skigebiet sehen heute anders aus, sondern auch das Skigebiet selbst. Damals ist die Porta Alpina das grosse Diskussionsthema in und um Sedrun. Die geplante Anbindung der abgelegenen oberen Surselva durch einen unterirdischen Bahnhof im Gotthard-Basistunnel polarisiert. Realität wird sie letztlich nicht, doch dafür erhält Sedrun auf anderem Weg eine neue Anbindung – nämlich per Seilbahn.
2018 nimmt die Verbindung mit Andermatt über den Oberalppass den Betrieb auf. Schon zuvor sind die beiden namhaften Bergdörfer auch im Winter verbunden, allerdings nur per Eisenbahn. Dem 2009 gestarteten grossangelegten Bauprojekt des ägyptischen Investors Samih Sawiris ist es zu verdanken, dass zwischen Nätschen und Oberalppass ein gänzlich neues Skiareal entsteht. Mehrere Sessel- und Kabinenbahnen ermöglichen seither einen Wechsel zwischen den Kantonen Graubünden und Uri per Seilbahn.
Andermatt-Sedrun – Skigebiet mit gewaltigen Ausmassen
Der Wandel des Andermatter Skigebiets ist in jüngerer Vergangenheit ohne jeden Zweifel einzigartig in den Alpen. Wo noch vor wenigen Jahren ein paar verstreut liegende kleine Anlagen ihre Runden drehten, ist innert kürzester Zeit ein Skigebiet mit gewaltigen Ausmassen entstanden. Was passiert, wenn sich ein Investor in ein beschauliches Bergdorf verliebt, ist am Beispiel der Skiarena Andermatt-Nätschen in positiver wie negativer Hinsicht bestens zu beobachten.
Doch dieser Umstand ist nicht der einzige Grund für meine Fahrt nach Sedrun. Mit dem Gemsstock bietet Andermatt noch ein zweites Skigebiet, das ebenfalls mein Interesse weckt. Mit zwei langen Pendelbahnen und anspruchsvollen Abfahrten an einem schattigen Nordhang will es irgendwie nicht so recht zum Rest der Skiarena Andermatt-Sedrun passen.
Angebunden ist der Gemsstock an die neu geschaffene Skigebietsverbindung allerdings nicht. Eine Fahrt mit dem Sportbus oder ein Fussmarsch durch Andermatt ist Voraussetzung für einen Wechsel zwischen den beiden Talseiten. Tatsächlich per Skipisten verbunden sind lediglich die Bereiche zwischen Dieni auf Seiten von Sedrun und dem Nätschen oberhalb von Andermatt. Der Gültigkeitsbereich der Tageskarte ist aber auch auf Bündner Seite noch grösser. Auch das Skigebiet von Disentis ist mittlerweile inkludiert. Von Sedrun führt eine recht neue Luftseilbahn als Zubringer nach Disentis-Cuolm da Vi. Notabene mit Zwischenausstieg am Cungieri, das dadurch über ein Jahrzehnt nach der Stilllegung der Einersesselbahn wieder einen Zubringer in Form einer Seilbahn erhält.
Von Dieni nach Milez
Da ich Disentis aber schon von früheren Besuchen kenne und das gesamte Gebiet für einen Tagesausflug ohnehin zu gross ist, starte ich am frühen Morgen an der Sesselbahn von Dieni nach Milez. Mit dem knapp 3000 Meter hohen Gemsstock ist das Ziel des heutigen Skitags auf dem Pistenpanorama bereits in greifbarer Nähe. Doch in der Realität ist es ein weiter Weg.
So besteige ich als einer der ersten Gäste des Tages die Sesselbahn nach Milez. Seit 1994 ist diese kuppelbare Vierersesselbahn von Garaventa der Zubringer in das Skigebiet von Sedrun. Oder genauer gesagt Dieni, denn der Ort Sedrun selbst liegt doch einige Kilometer entfernt und besitzt ein eigenes Areal für Alpinski mit einigen Übungsliften. Der Wechsel dorthin erfolgt mit der Eisenbahn.
Einst werkelte an dieser Stelle ein 1962 eröffneter Schlepplift von Städeli. Die Sesselbahn wirkt an diesem Morgen etwas überdimensioniert, dürfte als einziger Zubringer an anderen Tagen aber durchaus ihre Berechtigung haben. Die zugehörige frisch präparierte Abfahrt entlang der Bahn erscheint mir durchaus lohnend, doch angesichts meines umfangreichen geplanten Programms breche ich ohne Wiederholungsfahrt gleich zur zweiten Sektion auf. Ein gutes Stück unterhalb von Milez startet die Sesselbahn Mulinatsch, die den 2200 Meter hohen Cuolm Val erschliesst.
Sedruner Paradehänge am Cuolm Val
Die Anlage überwindet auf einer Länge von mehr als zwei Kilometern rund 550 Höhenmeter. Sie bedient damit die Paradehänge von Sedrun und ist dementsprechend bereits zu dieser frühen Stunde gut ausgelastet. Einst steht an ihrer Stelle ein Doppelschlepplift von Städeli, der allerdings eine gänzlich andere Trasse besitzt als die heutige Sechsersesselbahn von Garaventa. Der Doppelschlepplift startet seinerzeit ein gutes Stück weiter oberhalb im Bereich Milez. Inwiefern die Verlängerung Richtung Tal nun ein echter Gewinn ist, wird mir nicht so ganz klar. Die Piste in diesem Bereich ist zwar landschaftlich nett, aber im letzten Teil doch mehrheitlich ein Ziehweg.
Mit dem Cuolm Val erreicht die gleichnamige Sesselbahn den zentralen Dreh- und Angelpunkt des Skigebiets von Sedrun-Dieni. Rückseitig endet an dieser Stelle eine zweite Sesselbahn, die die Wintersportler aus dem Val Val hinaufbefördert. Von dort geht die Sesselbahnkette über den Calmut schliesslich weiter bis zum Oberalppass.
Tegia Gronda – Der letzte Mohikaner
Anders als zu Zeiten der Erschliessung besteht das Skigebiet damit heute nahezu ausschliesslich aus Sesselbahnen. Doch ein letzter Schlepplift-Mohikaner aus den 1960er Jahren hat bis heute überlebt. Der Tegia-Gronda-Lift entsteht 1969 als Ergänzung zum Schlepplift Milez-Cuolm Val. Er bedient den oberen Teil des Hangs in einer etwas anderen Exposition und ermöglicht so auch im Hochwinter ein paar sonnigere Abfahrten. Mit einer Höhenlage zwischen 2020 und 2260 Metern ist die Anlage von Beginn an ein Garant für guten Schnee und erfreut sich daher schnell grosser Beliebtheit.
Heute wirkt der Schlepplift Tegia Gronda in dem so durchmodernisierten Skigebiet ein wenig aus der Zeit gefallen. Doch gerade für Nostalgieliebhaber bietet er eine willkommene Abwechslung. Bis auf die nachträglich ausgetauschten Gehänge ist er nämlich noch immer annähernd im Originalzustand in Betrieb. In typischer Städeli-Manier besitzt er eine kombinierte Antriebs-Abspannungseinheit in der Talstation und formschöne Fachwerk-Portalstützen. Er ist damit die letzte Erinnerung an jene Zeit, in der es an diesem Hang nur so vor Städeli-Schleppliften wimmelte.
Entsprechend nehme ich mir natürlich die Zeit für eine Wiederholungsfahrt an diesem Hang. Speziell, weil der Lift trotz seiner sonnigen Lage mittlerweile ein Schattendasein führt. Als vollkommen redundante Anlage fährt er mittlerweile nur noch in der Hauptsaison und macht über Mittag sogar eine Stunde Pause. Aber auch das ist bei so einer nostalgischen Anlage ja irgendwie passend.
Die Sesselbahnen im Val Val
Dann ist es aber höchste Zeit, weiter in Richtung Andermatt voranzukommen. Eine durchaus steile Piste führt mich ins Val Val hinab, wo die bereits erwähnte Sesselbahn zurück zum Cuolm Val startet. Ich steuere dagegen die gleich dahinterliegende Schwesteranlage an, die in direkter Verlängerung am Gegenhang zum Calmut emporsteigt. Beide Sesselbahnen sind fix geklemmte Exemplare aus dem Hause Garaventa und trotz Förderbandeinstieg recht gemütlich unterwegs. Aufgrund ihrer extrem steilen Trassierung überwinden sie dann aber doch recht zügig zahlreiche Höhenmeter. Dass die Sesselbahnen genau wie alle anderen in der Skiarena Andermatt-Sedrun den Namen Flyer tragen, ist trotzdem eine ziemlich peinliche Marketingaktion.
Landschaftlich ist das Val Val dafür ein weiterer Höhepunkt an dem noch jungen Skitag. Ein abgelegenes Hochtal inmitten einer unwirtlichen Felslandschaft ist fürs Auge ein willkommener Kontrast zu der doch eher sanft abfallenden Vorderseite des Skigebiets Richtung Dieni. Auch die Abfahrten sind dementsprechend lohnend. Allerdings bedienen beide Anlagen nur jeweils eine einzige Piste. Das dürfte bei grossem Andrang dann doch öfters mal eng werden.
Skihistorie am Oberalppass
An der Bergstation Calmut angekommen fällt der Blick auf die weitläufige Landschaft rund um den Oberalppass. Der Übergang zwischen Graubünden und Uri ist bereits seit mehr als einem halben Jahrhundert auch Schauplatz für Wintersportaktivitäten. Schon Mitte der 50er Jahre finden erste Versuche mit einem portablen Pendelschlepplift am Oberalppass statt, um Skifahrern den Aufstieg zu erleichtern. 1959 nimmt dann eine erste ausgewachsene Anlage den Betrieb auf, wird aber nur wenige Jahre später durch einen Neubau auf leicht versetzter Trasse ersetzt. Auch dieser zweite Schlepplift, erstellt übrigens vom Seilbahnpionier Gerhard Müller, hat jedoch kein allzulanges Leben und weicht 1986 einem Exemplar von Städeli.
Die Anlagen sind seinerzeit nur mit der Eisenbahn erreichbar. Ein Anschluss vom Skigebiet Dieni aus besteht damals nämlich noch nicht. Zwar nimmt 1980 im Val Val ein erster steiler Schlepplift auf der Rückseite des Cuolm Val den Betrieb auf, die Verbindung wird aber erst acht Jahre später mit den beiden heute noch bestehenden Sesselbahnen komplettiert. Den Hang des einst isolierten Schlepplifts am Oberalppass bedient heute eine Sechsersesselbahn von Bartholet. 2016 eröffnet ist sie seinerzeit der erste Schritt zur Anbindung von Sedrun an den Nätschen oberhalb von Andermatt.
Vom Oberalppass nach Andermatt
In ihren ersten beiden Betriebsjahren kommt ihr die strategisch so wichtige Verbindungsfunktion jedoch noch nicht zu. Erst 2018 nimmt mit der Kabinenbahn vom Oberalppass zum Schneehühnerstock das letzte entscheidende Puzzlestück der Verbindung den Betrieb auf. Die Kabinenbahn startet unweit der Passhöhe und erschliesst ein Gelände, das zum Skifahren auf den ersten Blick gar nicht so geeignet erscheint. Der Schneehühnerstock selbst ist ein in nahezu alle Richtungen senkrecht abfallender Fels, an dessen Fuss sich die Bergstation der neuen Anlage befindet. Per Seilbahn zugänglich ist dieser Bereich allerdings schon deutlich länger – allerdings nicht für die breite Öffentlichkeit. Eine kleine Militärseilbahn verbindet den Oberalppass mit einem Teil der Gotthardfestung bereits seit Anfang der 1960er Jahre. Die Pendelbahn von Küpfer existiert auch heute noch. Neben der viel grösseren Umlaufbahn von Leitner sticht sie allerdings kaum noch ins Auge.
Über die Zwischenstation Platten erreichen die Kabinen schliesslich eine Höhe von rund 2600 Metern über dem Meer. Der höchste Punkt des Skigebiets zwischen Dieni und Andermatt ist Ausgangspunkt für zahlreiche Abfahrten. Zur Station Platten, zum Oberalppass und in Richtung Nätschen. Insgesamt drei kuppelbare Sechsersesselbahnen bedienen die Abfahrten in diesem neu erschlossenen Bereich. Das Gelände erscheint hier durchaus attraktiv. Zwischen der Hochebene auf Urner Seite des Oberalppasses und dem Gipfelgrat liegen rund 600 steil abfallende Höhenmeter. Bei der Fahrt in Richtung Nätschen macht sich dann aber schnell eine gewisse Ernüchterung breit. Die Sesselbahnen erschliessen allesamt nur den Mittelteil des Geländes, während die Pisten mehrheitlich quer zum Hang trassiert sind. Das ermöglicht zwar ein schnelles Vorankommen in Richtung Nätschen, wirklich lohnend ist der Weg aber nicht. Bei den wenigen Gästen an diesem Frühlingstag laden die Querfahrten immerhin zum unbeschwerten Genuss der Landschaft ein. An anderen Tagen dürfte hier auch aufgrund der immensen Förderleistung der Sesselbahnen eine Reprise des grossen Krabbelns stattfinden.
Nätschen – Das erste Skigebiet von Andermatt
Mit der Sesselbahn Unterstafel erreiche ich den Gütsch, seines Zeichens bereits seit fast 90 Jahren ein Bestandteil des Skigebiets von Andermatt. Schon in den 1930er Jahren nimmt unterhalb dieses bekannten Gipfels der erste Schlepplift den Betrieb auf. Ein Gurtenlift von Oehler nach dem System Hefti entsteht als Attraktion entlang der Eisenbahnlinie zum Oberalppass. Lange Jahre ist ähnlich wie auf Bündner Seite diese Bahnstrecke der einzige Zubringer in das Skigebiet am Nätschen. Erst 1983 entsteht mit einer kleinen Zweiersesselbahn eine direkte Verbindung von Andermatt zu den Südhängen oberhalb des Dorfs.
Heute ist auf dieser Strecke eine 2017 eröffnete Kabinenbahn im Einsatz. In zwei Sektionen führt sie vom Bahnhof Andermatt über die Station Nätschen auf den Gütsch. Eine kuppelbare Vierersesselbahn aus den 90er Jahren ersetzt sie auf der zweiten Teilstrecke. Sie bedient damit einen Grossteil des Pistenareals am Nätschen und ist dementsprechend an guten Tagen stark frequentiert. Einzige Ergänzung in diesem Bereich ist die erwähnte Sesselbahn Unterstafel, die 2016 im Rahmen der ersten Bauetappe einen Schlepplift auf leicht veränderter Trasse ersetzt.
Fussmarsch durch Andermatt
Die zugehörigen Abfahrten in diesem Bereich sind erneut nicht wirklich Grund für Freudensprünge. Mehrere leicht hängende, flache Pisten führen hinab zur Station am Nätschen. Dort münden sie auf einen Ziehweg, der in der Folge über die Oberalppassstrasse nach Andermatt führt. Die Fahrt durch die Tunnels und Kehren der Strasse ist zwar recht originell, aufgrund des geringen Gefälles aber letztlich doch eher mühsam. Die zweite, wahrscheinlich deutlich spannendere Talabfahrt in direkter Falllinie wird leider seit einigen Jahren nicht mehr gepflegt. Immerhin entschädigt die Aussicht auf das Urserental und auf das eigentliche Tagesziel, den Gemsstock mit seinen pulvrigen Nordhängen.
Letzteren steuere ich in der Folge auf direktem Weg an, nachdem ich die Ski an der Talstation der Gütsch-Kabinenbahn abgeschnallt habe. Da ich keine Ahnung habe, wann und wo der Sportbus abfährt, mache ich mich zu Fuss auf den Weg durch den Ort. Wirklich weit entfernt liegt die Talstation der Gemsstockbahn nicht, sodass ich selbige rund zehn Minuten später und um einige Schweisstropfen reicher erreiche.
Begeisterung am Gemsstock in Andermatt
Der Anblick der spektakulären Seilbahn lässt die Mühen aber schnell in Vergessenheit geraten. Seit Beginn der 60er Jahre erschliessen zwei Sektionen Pendelbahn hier eine ganze Reihe von anspruchsvollen Nordhängen in bis knapp 3000 Meter über dem Meer. Und anders als am Nätschen hat sich an dieser Ausgangslage bis heute kaum etwas verändert. Noch immer geht es ganz klassisch mit einer Pendelbahn von Andermatt ins Skigebiet. Auf einem langen Spannfeld schweben die Kabinen hinauf zur ersten von zwei Fachwerkstützen, deren Kern noch original aus dem Jahr 1962 stammt. Damals ist es die Maschinenfabrik Bell aus Kriens bei Luzern, die die Anlagen am Gemsstock fertigt. Zu Beginn der 90er Jahre werden beide Sektionen dann einer umfassenden Sanierung durch Garaventa unterzogen, bei der unter anderem die Kabinengrösse von 40 auf 60 Personen gesteigert wird. 774 Höhenmeter überwinden die Kabinen auf der ersten Teilstrecke bis zur Station Gurschen.
Auch wenn die Förderleistung durch den Umbau ansteigt, so liegt sie heute immer noch nur bei rund 650 Personen pro Stunde. Als einziger Zubringer ins Skigebiet am Gemsstock ist das speziell am Morgen oft zu wenig. Ohne jeden Zweifel hätte eine kuppelbare Umlaufbahn bei dieser Streckenlänge immense Vorteile in Sachen Kapazität. Sie wäre aber auch wesentlich weniger stilvoll als die bestehende Pendelbahn.
Ein Skiberg aus dem Bilderbuch
Insofern ist es sehr zu begrüssen, dass der ursprüngliche Charakter des Skigebiets nach wie vor erhalten ist. Auch die zweite Sektion Pendelbahn zeugt noch heute davon, wie in den 60er Jahren unzählige Alpengipfel mithilfe von spektakulären Seilbahnanlagen einem breiten Publikum zugänglich gemacht werden konnten. Erneut sind es zwei markante Fachwerkstützen, die das Erscheinungsbild der knapp 2,2 Kilometer langen Strecke prägen. Die Höhendifferenz liegt mit 733 Metern ein wenig unter derer der ersten Teilstrecke, in Sachen Fahrterlebnis steht die zweite Sektion der unteren aber in nichts nach. Steil geht es in einer der beiden 80-plätzigen Kabinen an einer Felswand entlang nach oben, tief unterhalb führt eine Piste über die Reste des Gurschenfirns, die zweite, abgelegene Abfahrt über den St.-Anna-Gletscher liegt jenseits des Gemsgrats und ist daher aus der Kabine gar nicht zu sehen.
Bereits die erste Zwischenstütze mit ihrer zusätzlichen seitlichen Verankerung im Fels ist spektakulär, ein besonderer Moment einer jeden Fahrt ist aber das Passieren der oberen Stütze. Das Seil wird hier auf einer Kuppe kurz vor der Bergstation so stark abgelenkt, dass die Kabinen jeweils ordentlich ins Schaukeln geraten.
Wild und ursprünglich hoch über Andermatt
Stündlich erreichen dank der mit 80 Personen Fassungsvermögen etwas grösseren Kabinen maximal 760 Personen den Gemsstock. Als Hauptbeschäftigungsanlage des Skigebiets ist diese Förderleistung durchaus überschaubar. Die Exklusivität, die eine solche Bahn aufgrund ihrer begrenzten Förderleistung ausstrahlt, kommt aber dem Gipfelerlebnis zugute. Eine Fahrt auf den Gemsstock ist daher noch immer etwas Besonderes. Ein Gefühl, das so manch anderer Berg in den Alpen aufgrund neuer, auf Besuchermassen ausgelegter Infrastruktur mittlerweile vermissen lässt. In Sachen Infrastruktur ist der Gemsstock ohnehin ein kurioses Unikat. Während anderswo hier oben längst ein angenehm temperiertes Panoramarestaurant für die nötige Wohlfühlatmosphäre sorgen würde, ist der Gemsstock nach wie vor wild und ursprünglich. Abgesehen von einer Aussichtsterrasse und der Station der spektakulären Luftseilbahn gibt es hier oben nichts als Fels und Fernsicht. Nur auf wenigen anderen per Seilbahn erschlossenen Gipfeln kommt man dem Hochgebirge gefühlt noch so nah wie hier.
Vergessen sind die mühsamen Querfahrten am Nätschen. Das hier ist ein Skiberg, wie ich ihn mir schöner kaum ausmalen könnte. Entsprechend kann ich mir ein Grinsen auf der nachfolgenden Abfahrt über den Gletscher nicht verkneifen. 800 Höhenmeter Pulverabfahrt bei schönstem Sonnenschein lassen das Skifahrerherz höher schlagen. Licht und Schatten sind in Andermatt nah beisammen. Und so paradox es tönt – der grosse Lichtblick ist ohne Zweifel der schattige Gemsstock.
Zurück zur Station Gurschen
Weil die Hauptabfahrt über den Gurschenfirn etwas unterhalb der Zwischenstation endet, ist eine weitere Anlage für die Rückkehr erforderlich, um nicht jedes Mal bis ins Tal fahren zu müssen. Gemeinsam mit den Pendelbahnen nimmt daher ein kurzer, aber steiler Schlepplift zum Gurschengrat den Betrieb auf. An seiner Stelle steht seit 2015 eine gleichnamige kuppelbare Sechsersesselbahn von Garaventa. Die Anlage ersetzt aber nicht nur den Schlepplift, der übrigens bis zu seinem Betriebsende mit Kurzbügeln unterwegs ist. 1982 erstellt Garaventa eine weitgehend redundante Ergänzung in Form einer fix geklemmten Zweiersesselbahn. Diese erlaubt es auch weniger geübten Schleppliftfahrern, sicher und bequem zur Station Gurschen zurückzukehren. Heute überwindet die Anlage auf einer Länge von rund 900 Metern 266 Höhenmeter und erschliesst auch mehrere eigene kurze Pisten.
Nervenstärke beweisen am Schlepplift Lutersee
Der einstige Schlepplift am Gurschengrat ist lange Jahre die einzige Ergänzung zu den beiden Pendelbahnen. 1975 bekommt das Skigebiet aber erstmalig Zuwachs in Form einer weiteren Anlage. Der Schlepplift Lutersee fügt sich ganz und gar prächtig in das Erscheinungsbild dieses Skibergs ein. Eine gewagte, steile Trassierung inmitten einer unwirtlichen Felslandschaft ist selbst bei geübten Wintersportlern wahrlich nichts für schwache Nerven. Umso erstaunlicher ist es, dass ausgerechnet dieser Schlepplift bis heute überlebt hat. Doch dem Charakter des Skigebiets am Gemsstock kann das nur zuträglich sein.
Konstrukteur des Schlepplifts mit seinen charakteristischen Fachwerk-Portalstützen ist unverkennbar die Firma Garaventa. Um überhaupt einen geeigneten Weg zwischen den steilen Felsen hinauf zum Lutersee zu finden, setzt der Hersteller aus der Zentralschweiz auf eine Trassierung in Form eines Dreiecks. Zumindest auf den ersten Blick, denn streng genommen weist die bergfahrende Seilseite neben der offensichtlichen Kurve noch weitere Ablenkungen durch schräg gestellte Rollenbatterien auf. Auf einer Länge von gut 1,1 Kilometern überwinden die Bügel nicht weniger als 372 Höhenmeter. Angetrieben und abgespannt wird der Lift dabei in der Talstation, sodass die Bergstation auf dem instabilen Untergrund möglichst kompakt ausfallen kann. Irgendwie scheint der Schlepplift Lutersee aus der Zeit gefallen zu sein. Doch gerade das macht ihn so kultig.
Gemsstock oder Mittagspause?
Zwei Fahrten lege ich hier ein, dann will ich eigentlich mit der Sesselbahn für eine kurze Mittagspause zum Gurschen zurückkehren. Doch die Zeit drängt. Für eine erneute Fahrt auf den Gemsstock bleibt auch bei einer kurzen Rast kaum noch Spielraum. Die angebotenen Gerichte in dem kleinen Restaurant machen die Entscheidung nicht gerade leichter. Doch letztlich lautet die Devise: Essen kann ich auch am Abend noch etwas, auf den Gemsstock komme ich nicht mehr so schnell. Und so schwebe ich wenige Augenblicke später auch schon zum zweiten Mal dem Gipfel entgegen.
Die anschliessende Fahrt über den St.-Anna-Gletscher ist nicht weniger genussvoll. Breite, weitläufige Hänge, soweit das Auge reicht. Auch die nachfolgende Talabfahrt ist ein Leckerbissen. Steil, anspruchsvoll und nach wie vor mit schönstem Pulverschnee überzogen. Während anderswo der Weg ins Tal nur ein lästiges Übel am Ende des Skitags ist, ist er hier ein fester und lohnender Bestandteil des Kernskigebiets. Ein weiterer Punkt, der den Gemsstock so speziell macht.
Doch für eine Wiederholungsfahrt bleibt mir leider keine Zeit mehr. Ein Abzweig von der Talabfahrt führt mich an den Rand von Andermatt, von wo aus ich erneut quer durch den Ort stiefele. Diesmal ist der Weg etwas kürzer, sodass ich bereits wenige Minuten später wieder an der Talstation der Kabinenbahn zum Nätschen eintreffe. Angesichts der hohen Sulzbuckel ist hier mittlerweile überhaupt nichts mehr los, was mir sogar eine Privatkabine beschert.
Gedämpfter Gotthardzander und gedämpftes Vergnügen
Auf dem Gütsch angelangt bringt sich mein Magen wieder ins Spiel. Ein kurzer Einkehrschwung sollte nach dem schneller als gedachten Wechsel zurück zum Nätschen eigentlich doch noch möglich sein. Beim Blick auf die Speisekarte des Bergrestaurants Gütsch lässt das Knurren dann aber schnell nach. Ob die Alliteration beim Gedämpften Gotthardzander auf sanftem Surselva Safranrisotto beabsichtigt ist, werde ich daher nicht herausfinden. Hier bin ich definitiv in der falschen Preisklasse unterwegs.
Also weiter in Richtung Sedrun. Der Weg führt mich nach einer neuerlichen Querfahrt zur Schwesteranlage der Sesselbahn Unterstafel. Auch die Sesselbahn Hinterbördli-Strahlgand stammt aus dem Hause Garaventa und ist im Hinblick auf die technischen Daten kaum von ihrer Nachbarin zu unterscheiden. Und irgendwie stellt sich beim Betrachten dieser Anlage erneut die Frage, was uns der Erbauer damit sagen möchte. Genau wie sie mitten am Hang beginnt, endet sie auch an selbigem. Zur Erschliessung eines für Skifahrer interessanten Geländes müsste sie eigentlich nach unten und oben ein gutes Stück länger sein. So überwindet sie auf 900 Metern Länge gut 260 Höhenmeter, bevor die Bergstation in Sichtbetonoptik erreicht ist. Eine reine Verbindungsanlage, die das Potenzial dieses Hangs nicht annähernd nutzt.
Suboptimale Verhältnisse am Nachmittag
Die interessanteste der drei Sesselbahnen ist daher zweifellos jene am Schneehühnerstock. Diese Anlage stammt von der Firma Leitner und unterscheidet sich optisch deutlich von den beiden anderen. Gemein mit ihnen ist ihr jedoch die steile Trassierung, denn auch die Sesselbahn Vordere Felli überwindet auf gut einem Kilometer Länge nicht weniger als 431 Höhenmeter. Als einzige bietet sie immerhin eine durchgehende Abfahrt in Falllinie. Vom unteren Teil erhalte ich eine Kostprobe, angesichts der tiefen Sulzbuckel verzichte ich aber auf eine Wiederholungsfahrt auf ganzer Länge.
Stattdessen möchte ich eigentlich den Weg zurück zum Oberalppass einschlagen, stelle aber kurze Zeit später fest, dass die Piste wegen Lawinengefahr mittlerweile gesperrt ist. Nicht wirklich überraschend bei den heutigen hohen Temperaturen an diesem exponierten Südhang. Warum man vor sechs Jahrzehnten den Gemsstock und nicht den Schneehühnerstock erschlossen hat, leuchtet irgendwie ein. So nehme ich noch die kurze Abfahrt zur Zwischenstation Platten mit, bevor ich notgedrungen den restlichen Weg mit der Kabinenbahn hinabschwebe.
Letzte Runde am Tegia-Gronda-Lift
Zurück auf Bündner Seite steht mir dann nach einer Fahrt mit der optisch gewöhnungsbedürftigen Sesselbahn Calmut eine letzte Abfahrt ins Val Val bevor. Inzwischen ist auch in diesem Bereich kaum noch jemand anzutreffen, sodass ich auch bei der anschliessenden Bergfahrt zum Cuolm Val die Stille der Bergwelt geniessen kann. Oben angekommen reicht die Zeit dann gerade noch für eine Wiederholungsfahrt. Nach so vielen Sesselbahnfahrten ist klar, wo ich sie bestreiten werde. Als einer der letzten Fahrgäste des Tages bügele ich noch einmal am Schlepplift Tegia Gronda an.
So verlockend die Talabfahrt am Morgen ausgesehen hat, so mühsam ist der Weg am Nachmittag. Der inzwischen im Schatten liegende Sulz ist bereits zusammengefroren und sorgt für einen wenig erquicklichen Tagesabschluss. Nichtsdestotrotz stehe ich schliesslich sieben Stunden, fünf Kameraakkus und 60 Gigabyte Foto- und Filmmaterial später wieder an der Talstation der Sesselbahn in Dieni.
Andermatt-Sedrun – Skigebiet mit ungenutzten Potenzialen?
Das Ende eines Skitags, der die Erwartungen vollumfänglich erfüllt hat. Sowohl die geringen an den Teil zwischen Sedrun und Andermatt als auch die hohen an den Gemsstock. Die Skiarena Andermatt-Sedrun hat sich im Grunde genau so präsentiert, wie man es vom Pistenplan her vermuten würde. Der Sedruner Teil ist nett, doch es fehlt ein echtes Alleinstellungsmerkmal. Die Anlagen erschliessen meist nur eine einzige – dafür aber breite – Abfahrt, die in erster Linie vom Panorama leben kann. Der Blick auf die Surselva ist ein Genuss, aber genau wie in Disentis wird man den Eindruck nicht los, dass deutlich mehr möglich wäre.
Das vermag auch die neue Verbindung mit Andermatt nicht zu ändern. Ohne jeden Zweifel ist die Anbindung für Sedrun und Disentis in touristischer Hinsicht ein Meilenstein und ein zukunftsweisendes Projekt. Die Art und Weise der Neuerschliessung im Bereich zwischen Nätschen und Oberalppass nutzt die vorhandenen Potenziale allerdings bei weitem nicht aus. Anlagen, deren Trassierungen Fragen offenlassen, Querfahrten am Hang entlang, schnörkelloses Ambiente. Ein Sektor, der weitgehend austauschbar wirkt.
Eine andere Art Porta Alpina
Völlig konträr dazu trifft man auf der anderen Seite auf das Nonplusultra am Gemsstock. Ein Skigebiet, das abgesehen von der neuen Sechsersesselbahn im Grunde seit nunmehr 60 Jahren unverändert daherkommt. Dass so etwas in dieser Grössenordnung mitten in den Alpen noch anzutreffen ist, ist bereits überraschend. Noch viel erstaunlich ist aber, dass ein solches Teilgebiet ausgerechnet in der sonst so modernen und glattgeschliffenen Skiarena Andermatt-Sedrun zu finden ist.
Während sich das Marketing seit Jahren um die neue Verbindung dreht, bleibt dieser eigentliche Höhepunkt eher eine Randnotiz. Völlig unterverständlich, denn eines ist nach diesem Tag ohne jeden Zweifel klar geworden. Die Verbindung zwischen Nätschen und Dieni via Oberalppass ist genau das – eine Verbindung. Nicht mehr, nicht weniger. Dass man sechs Jahrzehnte gebraucht hat, diese Hänge für den Skisport zu erschliessen, ist nicht wirklich überraschend. Dass es dann letztlich nur so suboptimal gelungen ist, schon eher. Und so wird Sedrun nach dem Besuch sämtlicher Skigebiete im Kanton Graubünden für mich in erster Linie eine etwas andere Art Porta Alpina sein. Nämlich das Tor zu einem der grossartigsten Skiberge der Alpen – dem Gemsstock.
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Felix ist Fotograf und Autor, spezialisiert auf Landschafts- und Reisefotografie und zu Hause im Saarland und der ganzen Welt. Wenn er nicht gerade in der Natur oder den Bergen unterwegs ist, schreibt er hier über seine Reisen, die Fotografie oder über sein liebstes Fortbewegungsmittel, die Seilbahn.
Sehr treffend geschrieben! Die Sessellifte zwischen Nätschen und Schneehühnerstock sind wegen den Naturschützern leider so kurz geraten.
Vielen Dank für deinen Kommentar, Urs! Dachte ich mir schon, dass man keine Bewilligung für die Erschliessung des gesamten Hangs erhalten hat. Trotzdem sehr schade, so ist es einfach nichts Halbes und nichts Ganzes.
Stimmt, Hang verbauen und doch kein
Richtiges Erlebnis gönnen… Früher schoss das Militär mit Blei in die Hänge. Da mussten die Landschaftsschützer sich wohl bei ihren Spendern beweisen…
Da ist die Verbindung alleine schon ein Erfolg, leider.