Seilbahnen werden heute gedanklich in erster Linie mit Skigebieten in Verbindung gebracht. Und in der Tat besteht kein Zweifel daran, dass der Skisport noch immer der wichtigste Absatzmarkt für seilgezogene Aufstiegshilfen ist. Doch Seilbahnen finden auch in ganz anderen Bereichen Einsatz. Den wohl ältesten Zweck stellt der Transport von Waren dar. Nachweise für frühe Formen der Materialseilbahn finden sich bereits im Mittelalter, doch ihren Durchbruch erlebt diese Form der Seilbahn erst mit der industriellen Revolution. Zum Transport von Rohstoffen aus unzugänglichen Abbaugebieten zu den Verarbeitungsstätten entstehen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der ganzen Welt unzählige lange und spektakuläre Transportbahnen.
Viele derartige Seilbahnen sind über Jahrzehnte, teils über ein Jahrhundert in Betrieb. Doch aufgrund der mangelnden Wirtschaftlichkeit des Rohstoffabbaus in solchen entlegenen Bergregionen und anderer Anforderungen an die Produktion sind die meisten von ihnen heute längst verschwunden. Umso erstaunlicher ist es, dass trotzdem auch in Deutschland noch ein paar letzte dieser ikonischen Bauwerke anzutreffen sind. Eine der bedeutendsten Anlagen ist die Materialseilbahn von Leimen nach Nußloch wenige Kilometer südlich der Stadt Heidelberg. Die Anlage befindet sich im Eigentum der HeidelbergCement AG und dient zum Transport von Kalk aus einem Steinbruch östlich von Nußloch in das Zementwerk am Produktionsstandort des Unternehmens in Leimen. Luftlinie liegen diese beiden Punkte rund fünf Kilometer voneinander entfernt. Dass die Seilbahn diese Strecke nicht auf direktem Weg bewältigt, sondern den Umweg über eine Kurvenstation macht, ist die wohl grösste Besonderheit der Anlage. Doch nicht nur das macht sie zu einem einmaligen Bauwerk.
Eine Materialseilbahn für den Kalktransport
Ihre Geschichte beginnt sogar noch einige Jahre vor der Inbetriebnahme zwischen Nußloch und Leimen. Ende des 19. Jahrhunderts entsteht in der Gemeinde Leimen südlich von Heidelberg ein neues Zementwerk. Den Rohstoff liefert ein nahegelegener Steinbruch. Weil es sich jedoch schwierig gestaltet, genügend kalkreiches Gestein in Leimen abzubauen, nimmt man als Ergänzung die hochprozentigen Kalkgesteine einige Kilometer südlich in Nußloch ins Visier. Der Transport erfolgt nach der Jahrhundertwende zunächst mit Lokomotiven und Güterwagen. Diese stellen jedoch alsbald einen Kapazitätsengpass dar und können die Fördermenge nach einer zwischenzeitlichen Erweiterung des Abbaugebiets nicht mehr bewältigen.
So fällt schliesslich 1913 der Entscheid zum Bau einer Seilbahn als Transportmittel. Begünstigt wird die Entscheidung durch den Umstand, dass das Unternehmen nach dem Kauf und der nachfolgenden Stilllegung einer Zementfabrik in Ingelheim am Rhein die dort bestehende Anlage übernehmen kann. Diese Lorenseilbahn mit einer Länge von über fünf Kilometern und einer Kurvenstation wechselt daraufhin ihren Standort. Auf der Strecke zwischen Leimen und Nußloch dürfte sie daher eine der wahrscheinlich ersten Gebrauchtanlagen der Seilbahngeschichte sein.
Standardwerk der deutschen Seilbahnpioniere
Federführend im Bau solcher Anlagen sind zu dieser Zeit die beiden deutschen Seilbahnpioniere Julius Pohlig aus Köln und Adolph Bleichert aus Leipzig. Das sogenannte deutsche System der Materialseilbahn charakterisiert sich durch kleine Loren, die mit einer Klemmvorrichtung automatisch an einem umlaufenden Zugseil befestigt werden können. Die Seilklemme bringt die erforderliche Kraft durch das Eigengewicht der Lore auf. Um die Loren in den Stationen vom Seil zu lösen, ist der Klemmmechanismus mit einem Hebel ausgestattet, der beim Befahren einer Schiene automatisch betätigt wird und die Klemme so öffnet. Innerhalb der Stationen fahren die Loren dann auf Schienen weiter, während sie auf der Strecke mit einem kleinen Laufwerk über ein zusätzliches Tragseil gleiten. Für die Entleerung der Behälter sind diese kippbar an der Aufhängung befestigt.
Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs sorgt jedoch dafür, dass die Seilbahn am neuen Standort schliesslich erst 1917 die ersten Fahrten absolvieren kann. Der permanente Betrieb beginnt kurz darauf und ermöglicht in der Folge einen Transport von ca. 50 Tonnen Gestein pro Stunde. Aufgrund des leichten Gefälles von Nußloch nach Leimen kommt die Bahn aufgrund des Übergewichts der talfahrenden, befüllten Loren, seinerzeit mit einem nur 10 PS starken Antrieb aus.
Erweiterungen und eine neue Seilbahn für Nußloch
In den folgenden Jahrzehnten wird die Fördermenge durch grössere Loren immer wieder erhöht. Zwischenzeitlich ist sogar die Errichtung einer weiteren Seilbahn auf gänzlich anderer Trasse in der Diskussion, die Pläne können aufgrund des Zweiten Weltkriegs letztlich aber nicht in die Realität umgesetzt werden. So fällt Ende der 1950er Jahre der Entschluss zum vollständigen Ersatz der bestehenden Anlage durch eine neue Lorenseilbahn mit deutlich grösserer Förderleistung. Der Bau läuft daraufhin zeitlich parallel zum Betrieb der Seilbahn, sodass im Herbst 1963 lediglich ein gut einmonatiger Betriebsunterbruch für den Übergang zur neuen Bahn entsteht. Bis zu 250 Tonnen Material kann die Anlage daraufhin transportieren und sorgt dafür, dass der Abbau im alten Steinbruch in Leimen endgültig zugunsten desjenigen in Nußloch beendet werden kann.
Die Kurvenstation ist jedoch auch bei der neuen Bahn weiterhin das Wahrzeichen. Anders als bei vielen vergleichbaren Materialseilbahnen liegt an dieser Stelle keine Sektionentrennung vor. Das Zugseil durchquert die Station also auf direktem Weg und auch die Loren werden während der Durchfahrt nicht vom Seil getrennt. Lediglich die Tragseile werden an diesem Ort gewechselt, sodass die Fahrzeuge die Station auf einer Schiene befahren, genau wie an den beiden Endpunkten der Strecke. Seitlich am Laufwerk angebrachte Führungsrollen befahren in der Kurvenstation ebenfalls eine Schiene. Diese ermöglichen eine Passage der Kurvenstation in beide Richtungen, indem die Loren das Seil bedingt durch die Führungsschienen in horizontaler Richtung von den Umlenkrollen in der Station abheben. Dies ist insbesondere bei der Fahrt auf der Kurveninnenseite notwendig, da andernfalls der Gehängearm mit den Rollen in der Station kollidieren würde.
Abschied von einer einmaligen Materialseilbahn
Über 60 Zwischenstützen auf der gut 5,3 Kilometer langen Strecke prägen das Erscheinungsbild der Orte Leimen und Nußloch bis heute. Die Seilbahn ist seit mittlerweile über einem Jahrhundert ein Wahrzeichen für die ganze Region und eigentlich ein schützenswertes Kulturdenkmal. Doch weil der Betreiber die Klinkerproduktion im Werk Leimen 2023 einstellt, ist der Rohstofftransport auf der bestehenden Trasse nicht mehr notwendig. Die Seilbahn, die im Laufe ihrer Geschichte zwei Weltkriege überlebt hat, wird daher in naher Zukunft verschwinden. Allenfalls einzelne Relikte sollen als Denkmal erhalten bleiben. Die markante Schneise, die sich durch die beiden Orte zieht, dürfte dagegen als lukratives Bauland schon bald anderweitig genutzt werden. Und so wird auch die Geschichte dieser einmaligen Materialseilbahn, einer der letzten in Deutschland, nach über 100 Jahren ihr Ende finden.
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Felix ist Fotograf und Autor, spezialisiert auf Landschafts- und Reisefotografie und zu Hause im Saarland und der ganzen Welt. Wenn er nicht gerade in der Natur oder den Bergen unterwegs ist, schreibt er hier über seine Reisen, die Fotografie oder über sein liebstes Fortbewegungsmittel, die Seilbahn.