Vielleicht wäre es doch besser gewesen, etwas zu essen und zu trinken mitzunehmen. „Irgendwie sind die Wegzeiten hier doch echt ein schlechter Witz“, murmele ich leise vor mich hin. Vom versprochenen Ausblick ist immer noch nichts zu sehen. Genausowenig wie von einem Ende des Bergwanderwegs.
Dass ich überhaupt auf diesem Weg entlang laufe, ist meiner Neugierde geschuldet. Beim morgendlichen Aufbruch vom Parkplatz gehe ich eigentlich davon aus, nur den einstündigen Weg bis zum Lac de Gaube in Angriff zu nehmen. Und so richtig vorbereitet habe ich mich auf den Ausflug auch nicht. Deswegen bin ich ein wenig überrascht, als ich gegen sieben Uhr auf einem riesigen Parkareal ankomme. Nur wenige Fahrzeuge stehen am Rand der endlosen Asphaltfläche, die man vermutlich auch noch von der ISS mit bloßem Auge erkennen kann. 6,50 Euro kostet mich der Aufenthalt auf dem Parkplatz, die ich vor der Ausfahrt am Nachmittag an einem der unzähligen Automaten entrichten soll.
Eine mysteriöse Brücke und ein pompöses Eingangstor
Anders als bei den sonstigen Eingängen in den Nationalpark Pyrenäen treffe ich am Parkplatz der Pont d’Espagne auf ein pompöses Eingangstor, das selbst dem Arc de Triomphe in nichts nachzustehen scheint. Gleich nebenan finde ich den noch verschlossenen Eingang zu einer Seilbahn, die durch den lichten Nadelwald in letzter Instanz zur Pont d’Espagne führt. Was es mit dieser ominösen Brücke auf sich hat, will ich aber erst am Nachmittag erkunden. Mein Ziel für den frühen Morgen sind Sonnenaufgangsfotos am weiter oberhalb gelegenen Lac de Gaube.
Aus diesem Grund schlage ich einen auffallend gepflegten Wanderweg ein, der in Serpentinen durch den Wald nach oben führt. Die ersten Meter sind steil und der größte Teil der Höhendifferenz von knapp 300 Metern ist damit schnell überwunden. Rauschende Wasserfälle begleiten mich wie schon am Vortag am Cirque de Gavarnie. Und genau wie am Vortag geht mein Plan auch heute auf. Die große Masse an Besuchern scheint darauf zu warten, dass die Seilbahnen den Betrieb um 9.30 Uhr aufnehmen. Dann ist auch der Lac de Gaube in weniger als einer Viertelstunde Marschzeit erreichbar.
Sonnenaufgangsfotos am Lac de Gaube
Doch auch schon zwei Stunden früher ist auf dem Wanderweg vom Tal zum See einiges los. Während eines Fotostopps überholt mich eine Gruppe Wanderer, die offenbar noch Großes vor hat. Anders ist es nicht zu erklären, dass sie ihre umfangreiche Kletterausrüstung im Rekordtempo den Berg hinauftragen. Dass es in der näheren Umgebung durchaus ein Relief gibt, das diese Gegenstände erfordert, wird mir kurze Zeit später klar. Der Blick wird frei auf den majestätischen Vignemale und seinen Gletscher, der sich an die steile Nordflanke klammert.
Wenige Augenblicke später ist auch der Lac de Gaube erreicht. Es kommt mir vor wie ein Déjà-Vu. Auch hier sind die Sonnenschirme auf der verlassenen Terrasse der Auberge noch zugeklappt. Nur wenige andere Wanderer sind unterwegs. Und die Sonne lässt auch heute noch hinter den Bergspitzen auf sich warten. Die Landschaft ist dagegen eine ganz andere als am Cirque de Gavarnie. Aber deswegen nicht weniger imposant. Dichte Wälder bedeckten die umliegenden Talseiten, ein paar Schleierwolken tauchen die Szenerie in ein diffuses Licht. Ein leichter Bergwind von Süden verhindert, dass sich die Berge im klaren Wasser des Lac de Gaube spiegeln. Doch ich habe Glück. Der Wind lässt nach und die Spiegelung samt Gletscher im Hintergrund kommt zur Geltung. Mein Zielfoto ist im Kasten.
Spontane Wanderung zu den Oulettes de Gaube
So suche ich nach neuen Herausforderungen. Der weit entfernte Gletscher zieht mich in seinen Bann. Eine Wanderkarte gibt es hier oben ebensowenig wie Handyempfang. Ob es einen Weg in Richtung Gletscher gibt, kann ich daher nicht eruieren. Doch dann stoße ich auf einen Wegweiser, der die Oulettes de Gaube in eineinhalb Stunden Entfernung anpreist. Zumindest ein wenig näher wird man dem Gletscher wohl kommen können. So starte ich spontan und unvorbereitet zu einem kleinen Abenteuer. Entlang des Sees ist der Weg noch leicht zu laufen. Bald geht es aber zügig bergauf.
Die Ausblicke auf die umliegenden Wasserfälle sind während des Marschs reizvoll. Weniger reizend ist dagegen der Umstand, dass auch nach zwei Stunden von den Oulettes de Gaube noch nichts zu sehen ist. Bin ich wirklich auf dem richtigen Weg? Und irgendwann muss doch endlich dieser Gletscher wieder einmal hinter den Hügeln auftauchen!
Überwältigende Szenerie am Vignemale
Auf einer größeren Ebene lege ich eine kurze Pause ein. Hier rückt der Gletscher nun endlich wieder ins Blickfeld. Ich bin kurz davor, es bei diesem Ausblick zu belassen und umzukehren. Doch letztlich siegt der Ehrgeiz. Müde und erschöpft kämpfe ich mich eine weitere halbe Stunde nach oben. Über eine Kuppe erreiche ich eine überwältigende Szenerie. Vor mir erhebt sich der über 3000 Meter hohe Vignemale, darunter der Glacier des Oulettes und ein Hochtal, ganz ähnlich dem immer noch ins Gedächnis eingebrannten Cirque de Gavarnie.
Staunend betrachte ich die Landschaft, während ich mich auf einem der umliegenden Felsbrocken ausruhe. Ich fühle mich wie kurz vor dem Verdursten. Wie in Trance fällt mein Blick auf ein Gebäude, das ich hier nicht erwartet habe. Doch es ist keine Fata Morgana. Es ist das Refuge des Oulettes de Gaube. Eine Schutzhütte des französischen Alpenclubs, in der ich kurz darauf bei einem wohltuenden kühlen Getränk und einem hausgemachten Omelett meine Mittagspause einlege. Letztlich ist es ein Glück, dass mich der Ehrgeiz bis hierhin getrieben hat. Und hätte ich mich vorher besser informiert, wäre die Überraschung über den Ausblick und die Gelegenheit zur Mittagsrast vermutlich nur halb so schön gewesen!
Massenandrang an der Pont d’Espagne
Auch auf dem Weg zurück zum Lac de Gaube kann ich die veranschlagten eineinhalb Stunden Marschzeit nicht einhalten. Inzwischen sind hier unzählige Wanderer, Spaziergänger und Erholungssuchende eingetroffenen, die nahezu jeden zugänglichen Fleck am Ufer okkupieren. Ähnliche Massen erwarten mich kurze Zeit später an der Pont d’Espagne. Zu der kaum überblickbaren Menge an Autos gesellen sich inzwischen auch unzählige Reisebusse. Alle wollen sie die alte Steinbrücke ansehen, die hier über rauschende Wasserfälle hinwegführt. Am nahegelegenen Souvenirladen ist die Hölle los. Der Blick ist zweifelsohne sehenswert. Doch vermutlich wissen die wenigsten der hier Anwesenden, was sie in Wirklichkeit verpassen …
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Felix ist Fotograf und Autor, spezialisiert auf Landschafts- und Reisefotografie und zu Hause im Saarland und der ganzen Welt. Wenn er nicht gerade in der Natur oder den Bergen unterwegs ist, schreibt er hier über seine Reisen, die Fotografie oder über sein liebstes Fortbewegungsmittel, die Seilbahn.