Es ist noch viel Platz an diesem kalten Herbstmorgen auf dem zentral gelegenen Parkareal des Dörfchens Gavarnie. Kurz nach sieben Uhr ist es, als ich mein Parkticket löse, die Wanderschuhe schnüre und den Rucksack schultere. Auf den ersten Blick scheint das kleine Bergdorf südlich der Ortschaft Gèdre in den zentralen Pyrenäen eines von vielen zu sein. Bunte Geranien schmücken das Ortseingangsschild, von der Sonne gegerbtes Holz verziert die alten Bauernhäuser. Am Straßenrand stellt die Dorfbäckerei gerade ihre Tafel mit den Tagesangeboten auf, während die ersten Vögel den neuen Tag begrüßen.
Die bezaubernde Berglandschaft des Nationalparks Pyrenäen ist hier auf ihrem Höhepunkt angelangt
Nur das riesige Parkareal in der Dorfmitte will so ganz und gar nicht zu der scheinbaren Bergidylle passen. Ein Stellplatz reiht sich an den nächsten, in regelmäßigen Abständen sind Parkautomaten anzutreffen. Ein Ticket gibt es im Tausch gegen fünf Euro – im Gratis-Parkland Frankreich höchst ungewöhnlich. Dass Gavarnie bei genauerem Hinsehen etwas aus dem Raster fällt, ist exakt einer Ursache geschuldet. Die bezaubernde Berglandschaft des Nationalparks Pyrenäen ist hier auf ihrem Höhepunkt angelangt.
Bereits vom Dorf aus ist er sichtbar, der höchste Wasserfall Europas. Über 400 Meter fällt das Wasser des Gave de Gavarnie im gleichnamigen Cirque in die Tiefe. Aber es sind nicht nur die Wasserfälle, die das Naturschauspiel einzigartig machen. Der Cirque de Gavarnie ist ein nahezu vollständig von kilometerhohen Felswänden umschlossenes Hochtal, das aus jedweder Perspektive zum Staunen verleitet. Insofern ist es kein Wunder, dass der Kessel vor rund zwei Jahrzehnten von der Unesco zum Weltkulturerbe erklärt wurde. Und ebensowenig erstaunlich sind die Touristenmassen, die das Spektakel anzieht.
Ausgestorbene Straßen und rauschende Bäche
Wer die Natur hier oben wirklich genießen möchte, der beginnt den Tag am besten bereits am frühen Morgen. Auf meinem Weg durch den in der Sommersaison autofreien Dorfkern in Richtung des Cirque kommt mir um diese Zeit lediglich die Müllabfuhr entgegen. Ansonsten ist keine Menschenseele auszumachen. Irgendwie fühle ich mich wie ein Fremdkörper auf den ausgestorbenen Straßen. Die Straßencafés sind leer, die Postkarten der Souvenirläden verharren hinter den verschlossenen Eingangstüren. Es herrscht eine gespentische Stille. Durchbrochen wird sie nur vom rauschenden Gave de Gavarnie. Der Bach wird mir auf meinem weiteren Weg ein steter Begleiter sein.
Eine gute Stunde nimmt die Wanderung von Gavarnie bis zum Eingang des Cirque in Anspruch. Dort erreiche ich das Hotel de la Cascade. Verlassen kommt es daher. Die Läden der oberen Fenster sind verschlossen, die Farbe bröckelt vom Holz der Fensterrahmen. Das Haus hat seine besten Zeiten offenbar bereits hinter sich. Lediglich die handgeschriebene Tafel mit den Tagesangeboten und die Sonnenschirme lassen darauf schließen, dass zumindest der Restaurationsbetrieb noch Gäste empfängt. Zu dieser frühen Stunde ist aber auch auf der schattigen Terrasse noch keine Menschenseele auszumachen.
Wohin man auch schaunt, die Landschaft erscheint surreal
So kann ich den mystischen Anblick ganz für mich alleine genießen. Ich stehe inmitten des etwa zwei Kilometer breiten Kessels, umzingelt von 1,5 Kilometer hohen senkrechten Felswänden. In der Ferne fällt das Wasser – so scheint es – in Zeitlupe über die Felsen herab. Auch jetzt, über eine Stunde nach Sonnenaufgang, erreicht kein wärmender Strahl den Cirque. Ohne Zweifel ist es einer der beeindruckendsten Orte auf der Erde, den ich je betreten habe. Wohin man auch schaut, die Landschaft erscheint vollkommen surreal. Lediglich der Blick nach Norden, hin zum Ausgang aus dem Talkessel, versichert mir, dass es einen Weg zurück gibt.
Über ein Geröllfeld komme ich dem Wasserfall immer näher. Der Aufstieg ist beschwerlich, denn die Steine sind von der Gischt nass und rutschig. Über die Felswand bläst mir ein kalter Fallwind entgegen. Immer wieder muss ich meine Kameraausrüstung vom Wasser befreien.
Dann ist es geschafft. Ich stütze mich an der Felswand ab, die von hier in den Himmel ragt. Ihr Ende kann ich nicht erkennen. Sicher ist nur – hier gibt es kein Weiterkommen mehr. Als ich mich umdrehe, blicke ich vom höchsten Punkt auf den Kessel. In der Ferne ist der Ausgang erkennbar. Mehr und mehr kleine, sich bewegende Punkte kann ich weit unterhalb ausmachen. Der Ansturm auf den Wasserfall nimmt seinen Lauf.
Wanderer im Sekundentakt
Vorsichtig steige ich über das Geröll wieder ab und folge der Kompassnadel nach Norden. Nach kurzer Zeit begegnen mir bereits nahezu im Sekundentakt andere Wanderer und Spaziergänger. Auf der Terrasse des Hotel de la Cascade entspannen die ersten Gäste unter den mittlerweile aufgespannten Sonnenschirmen. Die Sonne kommt langsam hinter den Felswänden hervor. Imposant ist die Landschaft jetzt immer noch. Durch die fehlende Einsamkeit ist das Erlebnis aber bei weitem nicht mehr so intensiv wie wenige Stunden zuvor. Diese speziellen Augenblicke bleiben daher all jenen vorbehalten, die vor der Völkerwanderung zum Cirque de Gavarnie aufbrechen.
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Felix ist Fotograf und Autor, spezialisiert auf Landschafts- und Reisefotografie und zu Hause im Saarland und der ganzen Welt. Wenn er nicht gerade in der Natur oder den Bergen unterwegs ist, schreibt er hier über seine Reisen, die Fotografie oder über sein liebstes Fortbewegungsmittel, die Seilbahn.