Es ist noch tiefe Nacht, als ich mich von dem örtlichen Campingplatz des kleinen Dorfs Fabian auf den Weg mache. Ich war nahezu der einzige Gast auf dem großen Areal. Und auch jetzt, wo mir die Scheinwerfer den Weg in Richtung der Ortschaft Aragnouet weisen, bin ich allein auf weiter Flur. Durch den Tunnel de Bielsa-Aragnouet führt die Straße über den Pyrenäenhauptkamm weiter nach Spanien. Wirklich große Bedeutung scheint diese Nord-Süd-Verbindung allerdings nicht zu besitzen.
Spanien und der Tunnel sind aber auch nicht mein Ziel an diesem kalten Sonntagmorgen. Noch vor Aragnouet setze ich den Blinker und biege nach rechts in eine kleine Seitenstraße ein. Ein Schilderwald weist auf die Verhaltensregeln hin, die auf der Gebirgsstraße gelten. Lesen kann ich die kleine Schrift in der Dämmerung nicht. Das wichtigste Schild ist dagegen deutlich erkennbar – die Straße ist geöffnet. 14 Kilometer enge Kehren durch den Wald liegen nun vor mir. Zwischen den Bäumen nehmen die umliegenden Berge des Massif du Néouvielle langsam Konturen an. Lange wird es nicht mehr dauern, bis die Sonne den Horizont übersteigt.
Lac d’Orédon – der erste Stausee der Pyrenäen
Als ich eine Abzweigung in 1900 Metern Höhe erreiche, lichtet sich der Blick und das Tal weitet sich schlagartig. Ich entscheide mich für die rechte Straße, die mich ans Ufer des Lac d’Orédon bringt. Der See ist der tiefstgelegene Stausee des Massif du Néouvielle – der östlichste Teil des französischen Nationalparks Pyrenäen.
1869 beginnt der Bau des Staudamms am Lac d’Orédon und kann 15 Jahre später fertiggestellt werden. Der erste Stausee der Pyrenäen ist ein Bauwerk, das den Wasserhaushalt in den angrenzenden Tälern besser steuern soll. An die spätere Nutzungsmöglichkeit zur Energiegewinnung denkt zum Zeitpunkt des Baus noch niemand. Das ändert sich Mitte des 20. Jahrhunderts, als das Néouvielle-Massiv großflächig mit mehreren Stauseen für Wasserkraft bestückt wird.
Die Seen des Néouvielle-Massivs
Der höchstgelegene künstliche See entsteht in 2160 Metern Höhe ist mit einer maximalen Füllmenge von 67 Kubikmetern Wasser gleichzeitig der größte in der näheren Umgebung. Pompös thront die 100 Meter hohe Staumauer des Lac de Cap-de-Long seit ihrer Fertigstellung im Jahre 1953 in der Landschaft. Sie ist jedoch die einzige, die im Néouvielle-Massiv wirklich störend ins Auge sticht. Auf meinem Weg zur Krone der Mauer ist das Bauwerk stets im Blick.
Einmal oben angekommen weiß der Blick auf den See aber zum Träumen anzuregen. Die umliegenden Berge sind noch mit Restschneefeldern überzogen und leuchten in der gerade aufgehenden Morgensonne. Sie spiegeln sich auf der glatten Wasseroberfläche. Einige Schleierwolken tauchen die Szenerie in ein diffuses Licht. Ich stehe ganz alleine auf der Staumauer. Außer mir will dem Naturschauspiel scheinbar niemand beiwohnen. Lediglich auf dem Parkplatz am Rande der Staumauer wachen langsam aber sicher ein paar einsame Camper in ihren Wohnmobilen auf.
Für mich ist es damit Zeit, zu den verbleibenden Seen des Néouvielle-Massivs aufzubrechen. Zurück am Lac d’Orédon löse ich ein Ticket zum Befahren der Straße hinauf zum Lac d’Aubert und Lac d’Aumar. In den Sommermonaten von Juni bis einschließlich September ist die Straße für den Individualverkehr nur zwischen 17.00 Uhr und 9.00 zugänglich. Tagsüber verkehrt ein Pendelbus, während das eigene Fahrzeug auf dem kostenpflichtigen Parkplatz am Lac d’Orédon verweilen muss. Die Straße ist während dieser Zeit durch eine Schranke versperrt. In der Randsaison ist die Straße ganztägig befahrbar, sofern nicht schon die Zufahrt zum Lac d’Orédon nicht wegen der Wintersperre unpassierbar ist.
Paradiesische Landschaften am Lac d’Aubert
Am Ufer des Lac d’Aubert findet sich ein weiterer geräumiger Parkplatz, der bereits inmitten des Nationalparks Pyrenäen liegt. Anders als am Lac de Cap-de-Long ist es daher hier nicht gestattet, sein Nachtquartier aufzuschlagen. Lediglich eine ausgewiesene Zone am Rande der Staumauer erlaubt das Biwakieren im Zelt.
Hier oben bin ich nun endgültig im Paradies angekommen. Die Berge des Massivs – allen voran der namensgebende über 3000 Meter hohe Pic du Néouvielle – spiegeln sich auch hier auf der glasklaren Wasseroberfläche. Einige Murmeltiere begrüßen gemeinsam mit mir den neuen Tag. Mittlerweile finden auch immer mehr Wanderer den Weg hierher. Auch ich breche nach einem kurzen Abstecher zum nahegelegenen Lac d’Aumar zu einer Wanderung auf.
Wandern im Néouvielle-Massiv
Entlang eines kleinen Bachs folge ich dem Weg bergab zu den Laquettes-Seen. Anders als die großen umliegenden Seen sind diese nicht von Menschenhand gemacht. Es sind die letzten Spuren der eiszeitlichen Gletscher, die das Néouvielle-Massiv einst bedeckten.
Um die Mittagszeit erreiche ich den Lac d’Orédon und damit mein Auto wieder. Gerade noch rechtzeitig, bevor der Himmel seine Schleusen öffnet. Eine Wanderung zum vierten Stausee, dem Lac de l’Oule, kann ich daher nicht mehr antreten. Stattdessen steuere ich zurück ins Tal. Ein Schild macht mich darauf aufmerksam, dass ich den Nationalpark Pyrenäen verlasse. Doch lange wird es nicht dauern, bis ich ihn wieder betrete.
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Felix ist Fotograf und Autor, spezialisiert auf Landschafts- und Reisefotografie und zu Hause im Saarland und der ganzen Welt. Wenn er nicht gerade in der Natur oder den Bergen unterwegs ist, schreibt er hier über seine Reisen, die Fotografie oder über sein liebstes Fortbewegungsmittel, die Seilbahn.