Tschiertschen • Skifahren im Auge des Sturms

Wer an Skifahren in Graubünden denkt, dem kommen vor allem die grossen Skidestinationen Arosa-Lenzerheide, Flims-Laax, Davos oder das Engadin in den Sinn. Doch auch zahlreiche kleinere Skigebiete finden sich im grössten Kanton der Schweiz. Eines davon ist das malerisch gelegene Skigebiet von Tschiertschen am Eingang des Schanfigg, östlich von Chur. Zwei Sesselbahnen und zwei Schlepplifte erschliessen hier eine ganze Reihe an unterschiedlich steilen Pisten, die aber allesamt eines gemeinsam haben. Sie sind völlig naturbelassen, folgen dem natürlichen Geländeverlauf und setzen ausschliesslich auf Naturschnee.

Ungewöhnlicher Auftakt

Schon der Auftakt eines Skitages in Tschiertschen gestaltet sich etwas aussergewöhnlich. Der Parkplatz befindet sich am Ortseingang entlang der Strasse und damit weit entfernt vom eigentlichen Einstiegspunkt in das (gar nicht mal so kleine) Skigebiet. Vom Parkplatz aus ist vom Skigebiet genau genommen zunächst einmal überhaupt nichts auszumachen – wäre da nicht der Skibus der Bergbahnen Tschiertschen, der in regelmässigen Abständen zwischen dem Parkplatz und der Talstation der Sesselbahn Waldstafel verkehrt und den Gästen eine willkommene Alternative zu einem Fussmarsch durch die engen Gassen des Bergdorfes im Schanfigg ermöglicht. Rund 15 Personen finden pro Fahrt in dem gemütlichen Gefährt Platz, die Sportgeräte fahren in einer kleinen Anhängerbox mit. Im Ortszentrum findet die Fahrt ein Ende, die restlichen 100 Meter müssen bergauf zu Fuss bewältigt werden.

Pistenplan

Historie des Skigebiets Tschiertschen

An der Talstation der Sesselbahn Waldstafel löse ich eine Tageskarte und begebe mich nach einigen Foto- und Videoaufnahmen auf die erste Bergfahrt des Tages. Die Sesselbahn wurde gemeinsam mit ihrer Schwesteranlage Spieznam-Hühnerchöpf im Jahr 2001 als Ersatz für einen aussergewöhnlichen Oehler-Schlepplift erstellt. Sagenhafte 623 Höhenmeter überwand diese durchwegs steile Anlage und zählte damit zu den gefürchtetesten Schleppliften der Schweiz. Doch der 1963 erbaute Schlepplift war nicht die erste Seilbahnanlage in Tschiertschen, schon elf Jahre zuvor erstellte Karl Brändle als Konstrukteur der Eisenbahngesellschaft Zürich hier einen kleinen Vogler-Schlepplift, der – wie erwähnt – 1963 der deutlich längeren Oehler-Anlage weichen musste. Deren Talstation wurde etwas oberhalb der bestehenden installiert, wobei sich Antrieb und Abspannung dieses schweren Schlepplifts im Tal befanden. Bei der Bergstation handelte es sich um eine der typischen offenen Oehler-Fachwerkkonstruktionen.

Die Aarauer Firma kam einige Jahre später ein weiteres Mal beim Bau des Übungsskilifts Zalaus zum Zug. 1970 enstand etwas oberhalb des Dorfes dieser kleine Schlepplift als weitere Beschäftigungsanlage und Alternative zum steilen Schlepplift Hühnerchöpfe für weniger geübte Schneesportler.

Erweiterungspläne

Schnell entwickelten sich jedoch auch Pläne für eine grössere Erweiterung des Skigebiets, welche schliesslich im Jahr 1975 in Form von zwei neuen Schleppliften realisiert werden konnte. Höhepunkt der ganzen Erschliessung stellte zweifelsohne der steile Schlepplift Gürgaletsch dar, der seither den gleichnamigen markanten Gipfel in knapp 2400 Metern Höhe erschliesst. Damit war es dank der beiden Schlepplift-Sektionen fortan möglich, über 1000 Höhenmeter Skiabfahrt am Stück zu überwinden.

Als zweite Anlage wurde der Schlepplift Jochalp erbaut. Genau wie sein Pendant am Gürgaletsch als einer der ersten Schlepplifte der Firma Von Roll nach dem System Bühler. Dieser ist im Gegensatz zur Schwesteranlage mit rund 200 Höhenmetern und einer eher flachen Trassierung zwar kein Überflieger, ermöglicht aber eine enorme Erweiterung des Skigebiets und gleichzeitig eine Anbindung des Churer Jochs und des dortigen Bergrestaurants. Dieses hatte rund zehn Jahre zuvor bereits auf der anderen Bergseite eine kleine Beschäftigungsanlage für die Restaurantgäste erstellt, der Müller-Schlepplift war jedoch nur nach einem langen Fussmarsch von der Lenzerheide aus erreichbar. Nach dem Bau des neuen Schlepplifts Jochalp wurde die alte Anlage stillgelegt, die Stützen und Stationen stehen jedoch bis heute.

Von realisierten und vertagten Projekten

Lange tat sich im Skigebiet von Tschiertschen nichts in Sachen infrastruktueller Erneuerung. Planungen sahen vor, das Skigebiet mit der Lenzerheide und Arosa durch das Urdental oder gar durch eine Kabinenbahn von Churwalden auf das Churer Joch zu verbinden, doch die Ideen verstaubten im Laufe der Jahre in unergründlichen Schubladen. Nach der Jahrtausendwende sah man sich jedoch gezwungen, den inzwischen fast vierzigjährigen Schlepplift Tschiertschen-Hühnerchöpf zu ersetzen. Zu lang, zu steil und damit nicht mehr zeitgemäss lautete das Credo. Zudem stellte der Skilift die einzige Zubringermöglichkeit zu den restlichen Anlagen dar, was dafür sorgte, dass bei wenig Schnee im Tal das ganze Skigebiet geschlossen werden musste. So war der Ersatz durch eine Sesselbahn fest vorgesehen. Doch die Finanzen sprachen eine andere Sprache.

Schliesslich konnte im Sommer 2001 die Finanzierung des Projekts dann aber doch noch sichergestellt werden und die Bauarbeiten konnten beginnen. Anstatt den Skilift auf identischer Trasse zu ersetzen, entschied man sich dazu, zwei Sesselbahnen zu erstellen. Die erste, kuppelbare Sektion besitzt ihre Bergstation seither auf etwa drei Vierteln der Strecke des ursprünglichen Schlepplifts, während die zweite, fix geklemmte Anlage auf neuer Trassierung etwas oberhalb der Vorgängerbergstation endet.

Die Aufteilung erlaubt es, einen Grossteil der oberen Pisten auch dann noch zu öffnen, wenn im Tal bereits kein Schnee mehr vorhanden ist. Darüber hinaus ist es so auch möglich, nach einer Fahrt mit dem Schlepplift Gürgaletsch zu den Hühnerchöpfen zurückzugelangen – zuvor musste man – wie auch nach einer Fahrt mit dem Schlepplift Jochalp – ins Tal zurückkehren. Nachdem die teils flachen Pisten im oberen Teil des Skigebiets nun auch Anfängern zugänglich gemacht werden konnten, war der Schlepplift Zalaus obsolet. Er wurde daher im folgenden Sommer stillgelegt und schliesslich rückgebaut.

Unsichere Zukunft

Obwohl das Skigebiet von Tschiertschen mit insgesamt vier Anlagen eine recht stattliche Grösse besitzt, ist es um die Finanzen nach wie vor nicht rosig bestellt. Der Bau und Betrieb der beiden neuen Sesselbahnen sorgt seit jeher für eine angespannte finanzielle Situation, die sich durch die beiden vergangenen schneearmen Winter noch weiter zugespitzt hat. Um den Erhalt aller derzeitigen Anlagen – insbesondere des Schlepplifts am Gürgaletsch – zu sichern, haben die Bergbahnen Tschiertschen daher ein Crowdfounding-Projekt lanciert, um 30000 CHF für notwendige Sanierungsmassnahmen am Gürgaletschlift aufzutreiben. Sollte das Vorhaben scheitern, wird der Schlepplift Gürgaletsch unter Umständen diesen Winter das letzte Mal in Betrieb sein. Und Tschiertschen mit einem Mal seine Hauptattraktion los sein. Es bleibt daher zu hoffen, dass das erforderliche Geld schnellstmöglich zusammenkommt, damit Tschiertschen auch weiterhin eine echte Alternative zu vielen grösseren Skigebieten in der Umgebung bleibt.

Impressionen aus dem Skigebiet von Tschiertschen

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Talstation der Leitner-Sesselbahn Tschiertschen-Waldstafel. Der Antrieb befindet sich wie beim Vorgänger, dessen Stationsgebäude im Hintergrund sichtbar ist, im Tal.

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Eine der insgesamt vier (!) Talabfahrten verläuft im unteren Teil entlang der Sesselbahn, die neben Skifahrern auch Schlittler und Fussgänger transportiert.

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Beim Blick auf die Strecke wird bereits erstmalig die Naturbelassenheit der Skipisten deutlich, die Tschiertschen wie so viele andere kleinere Skidestinationen auszeichnet.

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In der oberen Streckenhälfte befinden sich die Abfahrten dann etwas abseits der Sesselbahn, sodass ich nahezu geräuschlos durch den Wald schwebe.

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Unterwegs geniesse ich diesen Ausblick in den oberen Teil des Schanfigg, jenes Tal, an dessen Ende sich Arosa befindet.

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Angekommen an der Bergstation Waldstafel. Das letzte, steilste Streckenviertel des Vorgängerschlepplifts lässt die neue Anlage aus – mit ein Grund dafür ist auch die Schlittelbahn, die seit dem Bau 2001 hier startet.

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Als Beschäftigungsanlage dient die zweite Sektion Spiezman-Hühnerchöpf, die unschwer erkennbar ebenfalls aus Sterzing stammt. Aus finanziellen Gründen entschied man sich hier 2001 für eine fix geklemmte Anlage mit Förderbandeinstieg – die Länge ist noch im Rahmen des erträglichen. Die Talstation befindet sich ein gutes Stück unterhalb der Bergstation der Waldstafel-Bahn und ist über eine relativ flache Genusspiste zu erreichen.

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Ein Blick auf die nahezu komplette Strecke der Sesselbahn Spiezman-Hühnerchöpf. Über 300 Höhenmeter überwindet sie und erschliesst eine Vielzahl an Pisten, die sich für Wiederholungsfahrten eignen, gleichzeitig ermöglicht sie aber auch den Zugang zu den beiden Schleppliften am Gürgaletsch und an der Jochalp.

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Die Talstation der Sesselbahn Spiezman-Hühnerchöpf – ihres Zeichens die einzige fix geklemmte Vierersesselbahn von Leitner in der Schweiz.

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Auf diesem Foto kommt die Schönheit der Pisten in Tschiertschen gut zur Geltung.

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Nach einem etwas steileren Stück in der Streckenmitte …

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… ist schon bald die Bergstation erreicht.

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Unterwegs passiert man die Bergstation des ehemaligen Schlepplifts Tschiertschen-Hühnerchöpf, die sich etwas tiefer als diejenige der Sesselbahn befand.

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Sesselbahn Spiezman-Hühnerchöpf, am Grat ist der steile Schlepplift GÜrgaletsch erkennbar.

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Sesselbahn Spiezman-Hühnerchöpf mit Ausblick ins Schanfigg.

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Auf dem Weg zur Talstation des Schlepplifts Gürgaletsch passiert man das Bergrestaurant Hühnerchöpf, ehe man im Schatten des Alpsteins den lauten Antrieb des Schlepplifts zu hören bekommt.

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Die Strecke sieht auf den ersten Blick nicht wirklich spektakulär aus, hat es aber in sich. Knapp 500 Höhenmeter überwindet der Schlepplift Gürgaletsch bei hoher Fahrgeschwindigkeit.

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Rechter Hand würde bei ausreichender Schneelage eine schwarze Piste verlaufen – so ist nur die rote auf der linken Seite geöffnet, die einen etwas weiteren Bogen in das Farurtal hinein macht.

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Impressionen von der Fahrt mit dem Schlepplift Gürgaletsch.

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Der Ausstieg befindet sich etwas unterhalb des Gipfelgrats in knapp 2400 Metern Höhe.

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Der etwa fünfminütige Aufstieg zum Grat lohnt sich aber nicht nur für Variantenfahrer, die von hier aus auf der anderen Bergseite zur Jochalp oder auch zur Lenzerheide abfahren, sondern auch einfach, um das Panorama zu geniessen. Dieses reicht von Schanfigg über das Aroser Weisshorn, das Farur- und Urdental, das Parpaner Rothorn und Lenzerhorn, die Skihänge der Lenzerheide, Brambrüesch und Flims-Laax-Falera bis hin zu den Alpen der Zentralschweiz und hinab nach Chur.

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Blick zum Aroser Weisshorn mit Restaurant und Skiabfahrt. Rechts unterhalb davon die Bergstation der Sesselbahn Carmenna.

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Um 90° gedreht erblickt man das Parpaner Rothorn mit Gipfelstation.

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Die Hänge auf der Westseite der Lenzerheide, markant die Schneise der neuen Kabinenbahn von Churwalden auf die Alp Stätz.

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Das Bergrestaurant Jochalp mit der Bergstation des gleichnamigen Schlepplifts rechts oberhalb davon. Links sind auch die immer noch bestehenden Stützen des ersten Jochalp-Schlepplifts auf der anderen Bergseite erkennbar. Imposant ist auch der Tiefblick auf Chur!

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Mehr oder weniger rund um Tschiertschen herum erstreckt sich das Skigebiet Arosa-Lenzerheide – auch die dortige Verbindungsbahn im Urdental ist vom Gürgaletsch aus sichtbar.

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Und noch ein weiteres Skigebiet ist von hier oben erkennbar – St. Peter-Hochwang auf der anderen Talseite des Schanfigg. Eine Bartholet-Sesselbahn mit Brändle-Stützen und einen Städeli-Schlepplift mit nicht weniger als sechs verschiedenen Abfahrten trifft man hier an.

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Die einzige geöffnete Abfahrt am Gürgaletsch führt durch eine schroffe, aber idyllisch gelegene Landschaft. Um von hier aus zur Jochalp zu gelangen, ist zwingend eine Fahrt mit der Sesselbahn Hühnerchöpf erforderlich – dies unterstreicht die für vier Anlagen ungewöhnliche Weitläufigkeit des Skigebiets.

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Blick auf den Schlepplift an der Jochalp mit seinen beiden Abfahrten. Die rechte, rote, ist zwar offiziell geschlossen, aber trotz wenig Schnee noch gut zu fahren.

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Über die herrliche Gruoba-Abfahrt geht es zur Talstation des Jochalp-Schlepplifts.

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Impressionen vom Schlepplift Jochalp.

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Von der Jochalp ist nicht nur die Lenzerheide sichtbar. Wer findet das Skigebiet von Savognin?

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Das Bergrestaurant Jochalp …

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… sowie der zugehörige ehemalige Schlepplift. Mitte der 60er Jahre gebaut wurde diese extrem leichte Müller-Anlage schon zehn Jahre später wieder eingestellt. Und doch existiert sie bis heute – wenn auch inzwischen ohne Seil, denn das hat man vor einigen Jahren entfernt.

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Ein Blick von der Jochalp auf den Gürgaletsch links, dessen Schlepplift sich auf der Rückseite des Berges befindet. Eine nicht offizielle, aber häufig befahrene Variantenabfahrt führt vom Gipfelgrat durch das sichtbare Tal hinunter zur Talstation des Schlepplifts Jochalp.

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Das dritte Bergrestaurant, Furgglis, ist sowohl von der eher mässig spannenden Rückkehrer-Piste von der Jochalp als auch von den anderen Talabfahrtsvarianten an der Sesselbahn Waldstafel erreichbar.

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Impressionen von den Genussabfahrten des Skigebiets Tschiertschen.

Abschliessende Gedanken

Fast zwölf Jahre ist es her, seit ich im April 2004 das letzte Mal meine Spuren durch den Schnee auf den Pisten von Tschiertschen zog – damals im Zuge der sogenannten Skisafari, die die Skigebiete Lenzerheide, Arosa und Tschiertschen über Variantenabfahrten verbindet. Seit der Verbindung der beiden erstgenannten Skigebiete durch eine Seilbahn mag die Tour an Bedeutung verloren haben, doch Tschiertschen ist – gerade auch separat – noch immer eine Reise wert.

Eine grosse Auswahl an natürlichen, coupierten und teils kuriosen Abfahrten, erschlossen durch zweckmässige und geschickt platzierte Anlagen. Rund um Tschiertschen herum tobt der Sturm mit der typischen Hektik und dem Stress des Industrieskigebiets Arosa-Lenzerheide. Doch genau in der Mitte, im Auge des Sturms, lässt sich entspanntes Skifahren im Kleinod Tschiertschen noch geniessen. Bleibt nur zu hoffen, dass der Skilift Gürgaletsch erhalten bleiben kann. Ein Wegfall dieser Anlage wäre ein herber Verlust!

 
 

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