Es wird noch ein langer Weg sein bis nach Biarritz. Das weiß ich, als ich am frühen Nachmittag an der Passstraße zum Col du Pourtalet in den Pyrenäen aufbreche. Dabei liegt die Stadt im Baskenland gar nicht auf meiner geplanten Route. Eigentlich würde ich nämlich besser schon heute einen Teil der langen Strecke zurück in die Heimat hinter mich bringen. Auf mehr als 1300 Kilometern werde ich Frankreich zum Abschluss meiner Tour durch die Grande Nation noch einmal komplett von Südwest nach Nordost durchqueren. In zwei Tagen, denn spätestens dann muss ich terminbedingt wieder zu Hause sein.
Von den Pyrenäen ins Baskenland
Trotzdem fahre ich wie schon in den letzten Tagen weiter in Richtung Westen, dem Ende des europäischen Festlandes entgegen. Der Wunsch ist zu groß, endlich wieder einmal an den Atlantik zu kommen. Nicht weniger als 17 Jahre sind vergangen, seitdem ich letztmals an der Küste dieses Weltmeeres stand. Und nach mehr als zehn Tagen auf den Gipfeln der Pyrenäen ist es ein guter Zeitpunkt, den Abschluss meiner Reise am Meer zu genießen.
Dass ich gerade die Stadt Biarritz für meinen Aufenthalt an der Atlantikküste wähle, ist eher dem Zufall geschuldet. Das ehemals kleine Fischerdorf, das erst Mitte des 19. Jahrhunderts als Sommerresidenz Napoleons III. internationale Bekanntheit erlangte, ist von den Pyrenäen aus die am nächsten gelegene Möglichkeit, das Meer zu erreichen. Doch auch landschaftlich erhoffe ich mir von der schroffen Küstenlinie und der oftmals stürmischen See imposante Fotogelegenheiten.
Sonnenuntergang fotografieren an der Atlantikküste
Es ist bereits früher Abend, als ich die Autobahn in der Nähe von Bayonne verlasse und mich durch den Feierabendverkehr zu meinem Domizil vorankämpfe. Bei schwülen 30° C erreiche ich einen Campingplatz am südlichen Ende von Biarritz. Der Kontrast zu den spartanischen Wiesenplätzen in den Bergen könnte größer nicht sein. Ein eigenes Schwimmbad, ein Restaurant mit Lieferung an die Parzelle und ein großer Vergnügungspark – hier mangelt es wirklich an gar nichts.
Doch all das interessiert mich bei der einen Nacht, die ich hier verbringen werde, wenig. Ich bin zum Fotografieren hierher gekommen. Um dem Spektakel beizuwohnen, wenn die Sonne in den Tiefen des Atlantiks verschwindet. Noch bevor die meisten Campinggäste vom Strand zurückkehren, schultere ich meinen Rucksack samt Stativ und breche zu Fuß in Richtung Küste auf. Weit ist der Weg nicht. Bereits nach wenigen Minuten kann ich einen ersten Blick auf die endlose Weite des Ozeans werfen. Am Strand tummeln sich unzählige Urlauber. Surfer nutzen die hohen Wellen für spektakuläre Akrobatikeinlagen.
Der Rocher de la Vierge
Es ist eine ganz andere Atmosphäre verglichen mit den Eindrücken, die ich zwei Wochen zuvor am Mittelmeer gewinnen konnte. Die Landschaft ist wild und natürlich. In der Ferne klatschen die Wellen gegen schroffe Felswände. Die Strände sind weitläufig, nicht kommerzialisiert und weit weniger überlaufen als an der Mittelmeerküste. Genau so habe ich den Atlantik in Erinnerung. Das Naturerlebnis ist hier ein ganz anderes als 500 Kilometer weiter südöstlich.
Die schroffen Felsen, die ich in der Entfernung ausmachen kann, geben mir mein Ziel für den heutigen Abend vor. Für Sonnenuntergangsfotos fehlt mir an dem Sandstrand im Süden von Biarritz ein ansprechender Vordergrund. Daher marschiere ich der Küste entlang in Richtung Norden. Es lockt der Rocher de la Vierge in der Nähe des Fischerhafens. Ein Felsenriff, das ein gutes Stück ins Meer hinausragt. Auf dem vordersten Felsen thront eine weiße Madonna mit Kind, die bereits seit dem Jahre 1864 an dieser Stelle verweilt. Sie erinnert als Schutzheilige die örtlichen Fischer an eine sichere Rückkehr in den Hafen.
Die größten Felsen sind über Brücken miteinander verbunden und ermöglichen so eine gefahrlose Expedition. Als Konstrukteur der Brücken zeichnete ein gewisser Gustave Eiffel verantwortlich, der nach Ideen Napoleons III. den Bau 1887 fertigstellte. Zwei Jahre vor seinem wahrscheinlich weitaus bekannteren Bauwerk in der Stadt Paris.
Die Sonne im Wettlauf mit den Wolken
Der Weg ist deutlich länger als ich es mir im Vorfeld ausgemalt habe. Eine knappe Dreiviertelstunde benötige ich, bis ich das Stadtzentrum um den Place Sainte-Eugenie erreiche. Dass es auch einen kostenlosen Pendelbus gibt, erfahre ich erst am nächsten Morgen. Die Sonne steht aber noch immer hoch, sodass ich genug Zeit für die Suche nach einem geeigneten Standort habe. Das Sonnenuntergangsspektakel wird dagegen von etwas ganz anderem bedroht. Von Spanien kommend ziehen seit meinem Aufbruch am Campingplatz immer dichtere, dunkle Wolken über dem Meer auf. Eine halbe Stunde vor Sonnenuntergang verdecken sie das Objekt der Begierde. Werde ich wie schon in den letzten Tagen in den Pyrenäen wieder kein Glück haben?
Unterdessen versammeln sich immer mehr Leute rund um den Rocher de la Vierge, um dem Sonnenuntergang beizuwohnen. Am Horizont schafft es die Sonne wieder für wenige Augenblicke hinter den Wolken hervor. Es ist ein Wettlauf ohne sicheren Ausgang. Wer wird schneller sein? Die Sonne, die im Nordwesten dem Ozean immer näher kommt? Oder doch die Wolken, die nun immer schneller in Richtung Norden vordringen?
Wesentlich gelassener nehmen es die unzähligen Fischer, die in regelmäßigen Abständen ihre Köder im Salzwasser treiben lassen. Zwischen ihnen habe ich mein Stativ auf der massiven Umrandung des Aussichtsplateaus aufgestellt und warte gebannt, während weit unter mir die Wellen unaufhörlich gegen die Felsen klatschen. Die See ist noch immer ruhig, trotz des merklich auffrischenden Windes.
15 Minuten auf einem Foto
Fünf Minuten vor Sonnenuntergang ist absehbar, dass die Wolken das Rennen gewinnen werden. Ich entscheide mich daher für eine Fotoaufnahme, die nicht ohne Risiko ist. Eine Langzeitbelichtung von einer Viertelstunde Dauer. Sie wird damit sowohl die Zeit vor als auch die Zeit nach Sonnenuntergang einfangen. Ohne die Chance auf eine Wiederholung. Wie zu Analogzeiten habe ich genau einen Schuss. Und der muss sitzen.
Der Bildaufbau ist simpel. Zwei Felsen im Wasser als Vordergrund, ansonsten beruhen meine Hoffnungen auf interessanten Wolkenspielen im Himmel. 15 Minuten lang stehe ich wie angewurzelt hinter meiner Kamera und blicke auf die endlose Weite des Atlantiks. Einmal tief durchatmen, dann löse ich die Verriegelung an meinem Fernauslöser. Es hat geklappt. Die bunten, vorüberziehenden Wolken kommen auf der Aufnahme wunderbar zur Geltung. Ein ganz anderes Foto, als ich es mir im Vorfeld ausgemalt habe. Aber nicht weniger interessant als eine im Meer versinkende Sonne.
Blaue Stunde am Leuchtturm von Biarritz
Zufrieden will ich meine Ausrüstung zusammenpacken, als mir plötzlich noch ein weiteres Motiv ins Auge sticht. Biarritz ist inzwischen hell erleuchtet. Besonders der Leuchtturm im Norden der Stadt sticht mit seinem Scheinwerfer ins Auge. Sein Licht fällt exakt auf einen der kleinen vorgelagerten Felsen des Rocher de la Vierge. Speziell jetzt, zur blauen Stunde, eine einzigartige Kombination. Schnell steht das Stativ wieder, die Kamera ist gerüstet. Und kurz darauf habe ich eine zweite unerwartete Aufnahme im Kasten.
Doch damit ist die Fotojagd für den heutigen Tag endgültig Geschichte. Die dunklen Wolken über dem Atlantik sind inzwischen zu einem veritablen Gewitter herangewachsen. Hell erleuchten unzählige Blitze das Meer, während ich zügig meinen Weg zurück zum Campingplatz bestreite. Die Küste werden sie in dieser Nacht nicht mehr erreichen. Doch sie bringen einen stürmischen Wind mit sich, der noch am nächsten Morgen für spektakuläre Ausblicke sorgt. Die See ist so rau, dass das Wasser bis zur Besucherplattform des Rocher de la Vierge spritzt. Ein Glück, denke ich mir, dass die Sonne abends untergeht. Und setze meinen Weg zum nächsten Sonnenuntergang weiter im Norden fort.
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Felix ist Fotograf und Autor, spezialisiert auf Landschafts- und Reisefotografie und zu Hause im Saarland und der ganzen Welt. Wenn er nicht gerade in der Natur oder den Bergen unterwegs ist, schreibt er hier über seine Reisen, die Fotografie oder über sein liebstes Fortbewegungsmittel, die Seilbahn.