Die Rollen schnalzen auf dem frisch gefetteten Seil. Langsam öffnet sich eine Tür nach der anderen. Ganz behutsam umfahren die vier orange bis gelb farblich abgestuften Kabinen die Umlenkscheibe in der Talstation. Ein kurzer Halt, dann geht es weiter. Hinauf bis in 3200 Meter Höhe. Seit 1976 ist das so in La Grave – dem vielleicht letzten echten Bergsteigerdorf und Alternativskigebiet in den französischen Alpen.
La Grave – Bergsteigerdorf und Alternativskigebiet
Schon am Eingang des Ortes, der an der Passstraße zum Col du Lautaret liegt, ist der Charme des altehrwürdigen Dorfes zu spüren. Das Leben spielt sich hier hauptsächlich an der einzigen größeren Durchgangsstraße ab. Hotels, Bäckereien und andere Geschäfte reihen sich entlang der Hauptstraße. An den Fenstern der oberen Stockwerke hängen bunte Geranien herab, wenn nicht gerade die Wäsche zum Trocknen aufgehängt ist. Rustikal kommen die Bauten mit ihren warmen Gemäuern und dem von der Sonne dunkel gefärbten Holz daher. Der Standort ist klug gewählt. An einem Südhang, rund einhundert Höhenmeter über dem Talboden gelegen, erhält La Grave auch in den langen Wintermonaten noch einige Stunden Sonne am Tag. Und das, obwohl das ganze Dorf im Schatten eines der majestätischsten Gipfelmassive der Alpen liegt – dem Massif des Écrins mit dem allgegenwärtigen Pic de la Meije.
Mehr als zwei Kilometer steigt der Fels vom Talgrund fast senkrecht bis zu den höchsten Gipfeln an. Gletscher klammern sich auf dieser mächtigen Nordseite auf dem Untergrund fest. Es scheint, als habe sich Mutter Natur an dieser Stelle besonders viel Mühe gegeben, um den Betrachter dieser imposanten Szenerie zum Staunen zu bringen. In der Tat fällt es nicht schwer, manche Minute oder gar Stunde ausschließlich damit zu verbringen, den Blick entlang der Felsen, Gletscher und Bäche schweifen zu lassen. Zusätzliche Attraktionen, die die Illusion einer möglichst perfekten Bergwelt anderswo unterstützen, hat La Grave nicht nötig. Der Anblick der Bergwelt ist bereits Attraktion genug.
Der Anblick der Bergwelt ist Attraktion genug
Und doch weiß man sein Naturkapital gewinnbringend zu nutzen. Die Nordhänge der Meije sind seit der Frühzeit des Skisports ein beliebtes Ziel. Doch der Weg dorthin ist beschwerlich. Ein Aufstieg über 2000 Höhenmeter sind für den wintersportbegeisterten Tourist zu viel des Guten. In einer Zeit, in der neue Skigebiete wie Pilze aus dem Boden sprießen, entschließt man sich auch in La Grave zum Bau einer Seilbahn. Vorbei sollen sie sein, die Zeiten des mühevollen Aufstiegs. Konstrukteur der Anlage ist die deutsche Firma PHB. Als Nachfolger der an der Saar ansässigen Firma Heckel, die in den 50er Jahren unter anderem die Seilbahn zur Aiguille du Midi in Chamonix erstellte, unterhält man nach wie vor gute Beziehungen nach Frankreich. Zudem kooperiert das Unternehmen mit dem französischen Seilbahnhersteller Montaz Mautino. So kommt es, dass anders als in vielen anderen Skigebieten zu jener Zeit nicht der Platzhirsch Poma zum Zug kommt.
Aber noch etwas ist anders. In La Grave werden keine Appartementblöcke in die Höhe gezogen, keine Bagger zum Anlegen von Abfahrten eingesetzt. Das Einzige, was in La Grave gebaut wird, ist die Seilbahn. Zwei Sektionen umfasst die Anlage, eine Zwischenstation in 2400 Metern Höhe und die Bergstation am Rande des Glacier de la Girose in 3200 Metern Höhe. Ein kleines Restaurant bei der Bergstation ist die einzige zusätzliche Infrastruktur. Technisch ist die Bahn nicht nur wegen ihres exorbitanten Höhenunterschieds interessant. PHB konstruiert eine Gruppenumlaufbahn mit Trag- und Zugseil. Je fünf Kabinen werden zu einer Gruppe zusammengefasst, von denen es auf jeder Sektion sechs Stück gibt. Der Zustieg erfolgt im Stillstand in den Stationen, die restlichen Gruppen warten in dieser Zeit auf der Strecke.
Skifahren in La Grave ist nicht vergleichbar mit anderen Orten
Das ermöglicht nicht nur, das atemberaubende Panorama zu bestaunen. Es bietet den Wintersportlern auch eine wohltuende Verschnaufpause. Manch einer benötigt sie, denn Skifahren in La Grave ist nicht vergleichbar mit anderen Orten. Es gibt keine präparierten Pisten, nicht einmal ausgesteckte Routen. Wer die Bergstation auf Skiern verlässt, der muss sich seinen eigenen Weg ins Tal suchen. Über Buckel, durch Couloirs, zwischen meterhohen Felsen hindurch.
Wohl dem, der sich einen Bergführer zur Hand nimmt. Mehr als eine handvoll Abfahrten am Tag schaffen hier auch die Besten nicht. Genau das macht La Grave so speziell. Das Skigebiet trotzt dem Trend, fortwährend Pisten durch schweres Gerät massentauglich zu machen, Seilbahnen mit immer größerer Förderleistung einzusetzen und damit den Skisport zu banalisieren. Die Industrialisierung der Skigebiete, um La Grave macht sie bislang einen großen Bogen.
Über den Gletscher von La Grave nach Les Deux Alpes
Eine Erschließung des Gletschers in den 80er Jahren durch zwei Schlepplifte ermöglicht auch den weniger freerideaffinen Wintersportlern eine Beschäftigung. Auch hier gilt, dass die wilde, unberührte Bergwelt die Hauptattraktion bleibt. Zusätzliche Angebote, die zu dieser Zeit andernorts von Speedmessanlage bis Funpark reichen, sucht man vergebens. Über einen Skiweg ist das Gebiet ab diesem Zeitpunkt auch mit dem Gletscher von Les Deux Alpes verbunden. Eine Retortenstation aus dem Bilderbuch. Zur selben Zeit entstanden, doch könnten die beiden Gebiete konträrer nicht sein. Les Deux Alpes als durchorganisiertes Gesamtkunstwerk am Berg für den komfortsuchenden Pauschaltouristen. La Grave als letzte verbliebene Bastion der naturliebenden Puristen auf zwei Brettern.
Doch so märchenhaft es auch klingen mag, um das Skigebiet von La Grave steht es alles andere als rosig. Fast wäre es letztes Jahr vorbei gewesen mit dem unbezwingbar scheinenden Skiberg. Der Betrieb der Anlagen kann nur in letzter Sekunde mit einer rettenden Übernahme sichergestellt werden. Es fehlt der Umsatz, den die Masse generiert. So bleibt nur zu hoffen, dass auch in Zukunft am Fuße der majestätischen La Meije die Rollen über die frisch gefetteten Tragseile schnalzen. Denn La Grave ist im Alpenraum einzigartig. Ein einzigartiger Skiberg.
Wanderungen durch den Parc National des Écrins
Auch im Sommer ist La Grave ein sehenswertes Ziel. Denn gerade dann, wenn der Schnee als trügerischer Schein über den Industrieanlagen am Berg verschwunden ist, weiß man die unberührte Natur erst recht zu schätzen. Wanderungen in den Parc National des Écrins sind genauso eine Reise wert wie das, was La Grave seit Anbeginn der Zeit ausmacht – der schiere Genuss des Bergpanoramas.
Das Ortsausgangsschild signalisiert das abrupte Ende der heilen Bergwelt von La Grave. Weit ist es von hier nicht mehr bis zum Col du Lautaret und der Alpenmetropole Briançon. Auf dem Weg dorthin passiert man das Skigebiet von Serre-Chevalier. Ein industrialisiertes Skiareal mit allen Annehmlichkeiten der Welt. Breite Schneisen ziehen sich mit Drainagen und optimiertem Neigungswinkel durch den Wald. Bestückt mit Fangnetzen und Schneekanonen, ehe sie vor der Terrasse des Appartementblocks mit einem sanften Gegenanstieg enden. In La Grave nimmt derweil die nächste Kabinengruppe den weiten Weg zur Bergstation in Angriff.
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Felix ist Fotograf und Autor, spezialisiert auf Landschafts- und Reisefotografie und zu Hause im Saarland und der ganzen Welt. Wenn er nicht gerade in der Natur oder den Bergen unterwegs ist, schreibt er hier über seine Reisen, die Fotografie oder über sein liebstes Fortbewegungsmittel, die Seilbahn.