Sind Alpen ein zählbarer Begriff? Mindestens zwei davon scheint es jedenfalls zu geben – nämlich in Les Deux Alpes, einem Retortenskigebiet in den französischen Alpen. Unweit der Alpenmetropole Grenoble und in Sichtweite der weltbekannten Alpe d‘Huez gelegen erfreut sich Les Deux Alpes einem breiten Einzugsgebiet. Skifahrer und Winterliebhaber aus der ganzen Welt nehmen die Anreise über die Serpentinen von Mont-de-Lans zu den Hochhäusern im paradox daherkommenden Chaletstil und anderen Architekturhöhepunkten in Angriff.
Sommerski in Les Deux Alpes
Wo im Winter tausende mit geschulterten Skiern durch die verschneiten Straßen von ihren zum Verwechseln ähnlichen Appartements zu den Talstationen der Seilbahnen laufen, geht es im Sommer ähnlich zu und her. Mit dem Unterschied, dass tagsüber die Skier und Stöcke Ellenbogenschonern und einem Downhillbike gewichen sind. VTT, wie die Franzosen die waghalsigen und nur bergab fahrenden Mountainbiker nennen, sind der große Renner. Nahezu jede Skistation, die etwas von sich hält, ist auf den Zug aufgesprungen. Die Parcours nehmen inzwischen Ausmaße mittelgroßer Skigebiete mit Abfahrten aller Schwierigkeitsgrade an.
Wer früh genug aufsteht, der kann aber auch im Sommer das charakteristische Klacken der Skischuhe auf dem Asphalt in Les Deux Alpes wahrnehmen. Als einer der wenigen Orte in den französischen Alpen bietet die Skistation auch heute noch jährlich während der Sommermonate Skibetrieb auf dem Glacier de Mont-de-Lans an. Anders als in vielen anderen Skigebieten lebt der Sommerskitraum hier auch heute noch. Die Erschließung erfolgte wie so häufig in den 70er Jahren. In einer Zeit, in der alles möglich schien. Kein Gipfel zu hoch, kein Gletscher zu weit. Und so nahm man auch die beschwerlichen sechs Kilometer von dem Touristenort bis zum Gletscher in Kauf, um Skibetrieb im Sommer anbieten zu können.
Le téléphérique est enfin débrayable!
Die Länge der Luftseilbahnen wird jedoch wie an vielen Orten alsbald zum Problem. Mit zwei pendelnden Kabinen ist die Förderleistung selbst im frequenzschwächeren Sommer viel zu niedrig. Doch in dem schroffen Gelände kann eine kapazitätsstärkere Kleinkabinenumlaufbahn nicht trassiert werden. Bis Mitte der 80er Jahre das französische Planungsbüro Denis Creissels vermeldet: „Le téléphérique est enfin débrayable!“. Hinter dem kryptischen Werbeslogan, den außerhalb der Seilbahnwelt vermutlich niemand ohne Erläuterung verstehen kann, versteckt sich die Erfindung des „Double-Monocable-Creissels“. Natürlich wird die neuartige Idee wie alles in Frankreich abgekürzt und ist seither unter dem Namen DMC bekannt.
Die Überlegung dahinter ist auf den ersten Blick denkbar simpel. Statt nur einem Förderseil setzt Creissels auf zwei parallel geführte Seile, die die Kabinen auf den Berg bringen. Dadurch können größere Kabinen eingesetzt werden, die Windsicherheit wird verbessert und zu guter Letzt können die Abstände zwischen den Stützen deutlich vergrößert werden. Genau wie bei einer klassischen Luftseilbahn mit Pendelbetrieb. Statt nur zwei pendelnden Kabinen können aber wie bei einer kuppelbaren Kleinkabinenumlaufbahn beliebig viele Kabinen eingesetzt werden. Damit steigt die Förderleistung um ein Vielfaches. Die Vorteile von Pendel- und Umlaufbahn sind vereint. Die Luftseilbahn ist damit also endlich kuppelbar.
Das DMC – ein Meilenstein der Seilbahngeschichte
Auch in Les Deux Alpes entsteht mit dem Jandri Express 1985 eine derartige Anlage in zwei Sektionen. Der Weg zum Gletscher ist dadurch zwar nicht kürzer geworden, die Warteschlangen dagegen schon. Insgesamt 1.800 Personen können die Kabinen des DMC zu den Schleppliften des Glacier de Mont-de-Lans stündlich befördern. Ein Meilenstein in der Geschichte des Skigebiets und in der Seilbahngeschichte insgesamt.
Viele Exemplare dieses Typs werden aufgrund des sehr speziellen Einsatzgebiets jedoch nie gebaut. Zudem folgt zu Beginn der 90er Jahre mit dem Funitel eine Weiterentwicklung, die dem DMC letztlich den Rang abläuft. Daher besitzt der Jandri Express nicht nur wegen seiner Länge von insgesamt 6,7 Kilometern einen gewissen Einmaligkeitswert. Ziemlich einmalig dürfte aber auch das Publikum im Sommer sein. So kann es schonmal vorkommen, dass ein Mountainbike gemeinsam mit einem Paar Ski den Weg zur Bergstation antritt.
Doch Les Deux Alpes bietet nicht nur im Hinblick auf das DMC ein lebendiges Exemplar Seilbahngeschichte. Gleich neben der Talstation startet mit der Kabinenbahn Oeufs Blancs eine der letzten original erhaltenen Eiergondelbahnen der Firma Poma. Die in diesem Fall weiß gefärbten eierförmigen Kabinen schweben seit 1973 unverändert über formschöne Fachwerkstützen auf den Berg. Nur im Winter, denn in den Sommermonaten verharren die Kabinen in der Legebatterie neben der Talstation.
Seilbahnjuwel im Abseits – die Sesselbahn Mont-de-Lans
Etwas unscheinbarer kommt da schon die Sesselbahn von Mont-de-Lans nach Les Deux Alpes daher. Jedem, der die Serpentinen in den Retortenort hinauffährt, wird sie auffallen, denn sie kreuzt das Asphaltband etwas oberhalb der Talstation. Für die meisten ist die Anlage ein reiner Zubringer im Abseits. Die beschneite Talabfahrt ist mäßig spannend und wer in Les Deux Alpes wohnt, der wird der Sesselbahn keine Bedeutung beimessen. Doch aus seilbahnhistorischer Sicht ist die Anlage mit ihren unkomfortablen Zweiersesseln ein Juwel. 1967 gebaut erzählt sie auch heute noch die Anfänge eines der erfolgreichsten französischen Seilbahnhersteller – der Firma Montaz Mautino.
Bevor sich Pierre Montaz mit Victor Mautino zur Gründung der Firma zusammenschließt, arbeitet er als Monteur bei einem nicht ganz unbekannten Hersteller namens Poma. Jean Pomagalski ist mit seiner Firma dank der Erfindung des Stangenschlepplifts zu weltweitem Ruhm aufgestiegen und verkörpert den ganzen Stolz der Grande Nation. Der pfiffige Pomagalski ist nicht abgeneigt, als ihn Montaz darum bittet, ihm eine Lizenz zum Bau der beliebten Schlepplifte und Sesselbahnen zu vergeben. In der neu gegründeten Firma sieht er weniger eine Konkurrenz als vielmehr eine Möglichkeit, seine Erfindungen schneller zu verbreiten.
Montaz Mautino beginnt daher zu Beginn der 60er Jahre Poma-Schlepplifte und -Sesselbahnen mit den exakt gleichen Konstruktionen zu erstellen. Mit der Zeit entfernen sich die Bauweisen aber immer mehr von den Poma-Ursprüngen. Sessel, Stützen und Stationen ähneln den Poma-Konstruktionen ein Jahrzehnt später in keiner Weise. Auch die Schlepplifte sind deutlich unterscheidbar. 1967 entsteht in Les Deux Alpes aber eine Sesselbahn, die noch eine astreine Poma-Konstruktion ist, obwohl sie das Firmenschild von Montaz Mautino ziert. Die Anlage ist eine der letzten, bei der dies noch der Fall ist. Alle anderen derartigen Bahnen wurden unterdessen entweder ersetzt oder zumindest modernisiert.
Les Deux Alpes – ein geschichtsträchtiger Ort in Sachen Seilbahnen
Wie lange die Bahn noch an Ort und Stelle verweilen wird, ist ungewiss. Dem Komfortbedürfnis des modernen Skigasts genügt sie schon lange nicht mehr. Doch vielleicht gerade wegen ihrer Lage im Abseits und ihrer damit geringen strategischen Bedeutung darf sie noch einige Zeit ihre Runden drehen. Dem Seilbahnhistoriker wäre es zu wünschen. Damit Les Deux Alpes auch weiterhin ein geschichtsträchtiger Ort in Sachen Seilbahnen bleibt.
Auch interessant ...
Felix ist Fotograf und Autor, spezialisiert auf Landschafts- und Reisefotografie und zu Hause im Saarland und der ganzen Welt. Wenn er nicht gerade in der Natur oder den Bergen unterwegs ist, schreibt er hier über seine Reisen, die Fotografie oder über sein liebstes Fortbewegungsmittel, die Seilbahn.