Super Saint Bernard – Sagenumwobene Ruinen in den Schweizer Alpen

Wer durch den Tunnel am Großen Sankt Bernhard im Schweizer Kanton Wallis fährt, der wird die okkafarbenen Gebäude am Wegesrand nicht wahrnehmen. Wer den Weg über den nur im Sommer geöffneten Pass einschlägt, dem stechen die Häuser von Bourg Saint-Bernard auf der linken Seite dagegen gleich ins Auge. Die großen roten Schriftzüge „Café – Restaurant“ an der Hauswand locken vielleicht so manch einen, an dieser Stelle eine kurze Pause auf dem Weg zum Pass einzulegen. Doch Speisen und Getränke gibt es hier schon lange nicht mehr.

Ehemaliges Skigebiet Super Saint Bernard - Col de Menouve

Ehemaliges Skigebiet Super Saint Bernard - Col de Menouve

Größer, höher, weiter als alles bis dahin gesehene

1962 wird der Tunnel am Großen Sankt Bernhard eröffnet und ermöglicht damit eine wintersichere Verbindung zwischen dem Genfer See und dem Wallis in der Schweiz sowie dem Aostatal in Italien. Im selben Jahr sind die Baumaschinen aber nicht nur mit dem Tunnel beschäftigt. Schweres Gerät rückt an, um am nördlichen Tunnelportal ein neues Skigebiet aus dem Boden zu stampfen. Inspiriert von den ersten Retortenstationen der französischen Nachbarn hat man auch am Großen Sankt Bernhard große Pläne. Ein Hochgebirgsskigebiet soll es werden. Größer, höher, weiter als alles bis dahin gesehene in den Tälern des Saint Bernard.

Tatsächlich ist der Anfang vielversprechend. Mit dem Col de Menouve wird ein Grat erschlossen, der mit einer Höhe von knapp 2800 Metern über dem Meer ein packendes Panorama und eine Vielzahl anspruchsvoller Abfahrten erschließt. Ein zusätzlicher Schlepplift erweitert das Pistenangebot rund um die Talstation. Damit ist Super Saint Bernard – so der an die französischen Skistationen angelehnte Name – das mit Abstand spannendste Gebiet für fortgeschrittene Skifahrer auf weiter Flur.

Ehemaliges Skigebiet Super Saint Bernard - Col de Menouve

Eine einzige Bahn und unzählige Abfahrtsvarianten

Anders als in Frankreich haben die seelenlosen Retortenstationen in der Schweiz aber einen schweren Stand. Nach der einstigen Euphorie wird auch Super Saint Bernard von der Realität eingeholt. Es gibt kein Dorf, kein Hotel, kein Ambiente. Das Skigebiet bleibt ein reiner Zweckbau im Hochgebirge. Für infrastruktuelle Erweiterungen fehlt das Geld.

Nichtsdestotrotz findet Super Saint Bernard seine Nische: Freeride. Mit der Seilbahn auf den Col de Menouve ist ein einzigartiges, weitläufiges und nahezu unersättliches Pistenareal erreichbar. Das Skigebiet besteht im Wesentlichen aus einer einzigen Bahn, und doch ist es möglich, den ganzen Tag neue Abfahrtsvarianten zu erkunden. Eine Abfahrt durch ein Seitental ermöglicht sogar den Zugang zum Großen-Sankt-Bernard-Pass, dessen Hospiz zu dieser Jahreszeit stets im Winterschlaf liegt. Den Höhepunkt stellt aber zweifelsohne die rückseitige, zehn Kilometer lange Abfahrt auf italienischer Seite bis nach Etroubles dar. Zurück geht es von hier nur mit dem Bus und durch den Tunnel.

Ehemaliges Skigebiet Super Saint Bernard - Col de Menouve

Ehemaliges Skigebiet Super Saint Bernard - Col de Menouve

Viel Drumherum gibt es nicht. Das einzige größere Restaurant ist in die Talstation integriert, auf dem Col de Menouve gibt es zusätzlich eine kleine Bar. Ansonsten beherbergen die Betonbauten einzig die Stationen der Kabinenbahn. Natürlich ist es 1962 der in der Konstruktion dieser Anlagen führende Schweizer Hersteller Giovanola, der hier unweit seines Firmenstandorts Monthey den Bauauftrag erhält. So entsteht auch am Col de Menouve eine der typischen Viererkabinenbahnen mit Schwerkraftklemmen. 800 Höhenmeter auf teils steiler Strecke überwinden die Kabinen. Später saniert die Zürcher Firma Städeli die Bahn, baut sie auf vollautomatischen Betrieb um. Auch die Kabinen werden bei dieser Gelegenheit ersetzt.

Ehemaliges Skigebiet Super Saint Bernard - Col de Menouve

Ehemaliges Skigebiet Super Saint Bernard - Col de Menouve

Super Saint Bernard ist ein Skigebiet mit Charme und Charakter

Es ist die einzige Modernisierung der Anlage. Das wird ihr letztlich zum Verhängnis. Trotz der großen Beliebtheit, der treuen Fangemeinde und der Integration in die Vermarktung der weltbekannten Quatre Vallées sind 2010 für dringende Sanierungsarbeiten keine Finanzmittel vorhanden. Am Saisonende weiß das aber noch niemand. So wird die Bahn am letzten Tag der Wintersaison abgestellt. Dass sie womöglich nie mehr fahren könnte, ist an diesem Tag völlig undenkbar.

Ehemaliges Skigebiet Super Saint Bernard - Col de Menouve

Ehemaliges Skigebiet Super Saint Bernard - Col de Menouve

Das Entsetzen ist daher kurze Zeit später groß. Mit seiner Lage und seiner kompromisslos auf Zweckmäßigkeit ausgerichteten Infrastruktur ist das Gebiet ein Juwel. Kein Plastik-Kinderland, keine Fangzäune, keine Pistenmodellierung. Super Saint Bernard ist ein Skigebiet mit Charme und Charakter. Kein beliebig austauschbarer Freizeitpark mit breiten Pistenautobahnen, die sich wie ein Ei dem anderen gleichen. Ein Ort, den es so kein zweites Mal auf der Welt gibt.

Doch schon ein Jahr später zeigen Vandalismusschäden an der Talstation, dass die Stilllegung grausame Wirklichkeit geworden ist. Die Schäden sind so groß, dass eine erneute Inbetriebnahme nicht mehr möglich ist. Nachdem aber schon die Sanierung der alten Bahn finanziell nicht durchführbar ist, wie soll dann erst eine neue Bahn gebaut werden?

So kommt es, wie es kommen muss. Die Anlagen werden dem Verfall überlassen. Immer wieder kommen große Reaktivierungspläne zur Sprache. Doch Realität werden sie nie. Das Seil wird einige Jahre nach der Stilllegung aus Sicherheitsgründen entfernt, der Rest wacht weiterhin als stummer Zeitzeuge über den Col de Menouve.

Prypjat, die ukrainische Geisterstadt, die nach der Reaktorkatastrophe von Tschenobyl aufgegeben wurde, ist der Inbegriff für einen Ort, an dem die Zeit stehengeblieben ist. Noch heute ist dort eine Welt zu sehen, wie sie im April 1986 aussah. Die Zeit am Col de Menouve ist im April 2010 stehengeblieben.

Ehemaliges Skigebiet Super Saint Bernard - Col de Menouve

Ehemaliges Skigebiet Super Saint Bernard - Col de Menouve

Ehemaliges Skigebiet Super Saint Bernard - Col de Menouve

Ehemaliges Skigebiet Super Saint Bernard - Col de Menouve

Die Zeit am Col de Menouve ist im April 2010 stehengeblieben

Gerade das macht eine Erkundung der sagenumwobenen Ruinen des Super Saint Bernard so reizvoll. Mein Ziel ist es daher, die Bergstation aufzusuchen, solange sie noch steht. Doch das ist kein einfaches Unterfangen. Immerhin liegt die Station mitten im Hochgebirge in knapp 2900 Metern Höhe. Einen offiziellen Weg dorthin gibt es nicht. Und das obere Drittel führt über ein nahezu unbegehbares Geröllfeld.

Eine Erkundung der Talstation eröffnet zu Beginn der Wanderung ein erschütterndes Bild. Die Kabinen sind zerstört, Gegenstände zerschmettert, Glasscheiben zerbrochen. Der Boden ist übersäht mit Müll und Unrat. Nicht einmal die Steuerungsschränke sind verschont geblieben. Im Wartebereich liegt ein offener Ordner mit Betriebsanweisungen. Gleich daneben ein Stapel mit noch unbedruckten Skipässen. Sie werden keine Besitzer mehr finden.

Ehemaliges Skigebiet Super Saint Bernard - Col de Menouve

Ehemaliges Skigebiet Super Saint Bernard - Col de Menouve

So breche ich anfänglich über einen Fahrweg in Richtung der Bergstation auf. Nach einem Drittel der Strecke endet der Weg. Fortan steige ich entlang der ehemaligen Skipiste auf. In der Entfernung kann ich einige Kühe erkennen, ansonsten bin ich auf dem Weg zum Col de Menouve aber vor allem eines: einsam. Wären da nicht die Stützen der Bahn, die in den blauen Himmel ragen, nichts würde darauf hindeuten, dass hier fast 50 Jahre lang der Tourismus blühte.

Ehemaliges Skigebiet Super Saint Bernard - Col de Menouve

Ehemaliges Skigebiet Super Saint Bernard - Col de Menouve

Ehemaliges Skigebiet Super Saint Bernard - Col de Menouve

Ehemaliges Skigebiet Super Saint Bernard - Col de Menouve

So kurz vor dem Ziel aufgeben? Undenkbar.

Nach etwa zwei Dritteln der Wegstrecke lege ich eine Mittagspause ein, um mich für den mit Abstand anstrengendsten Teil der Wanderung zu rüsten. Ab Stütze 13 wird das Gelände steil und das Geröllfeld macht jeden Schritt zu einer Tortur. Immer wieder geht der Blick sehnsüchtig nach oben in Richtung Bergstation, wo der Boden von der kalten letzten Nacht noch gefroren ist. Auch die Stützen sind von einer Eisschicht überzogen. Der von Reif überzogene Untergrund erschwert das Vorankommen zusätzlich. Oft rutsche ich weg, muss mich mit den Händen abstützen. Oft scheint die Lage aussichtslos und ich muss mich neu orientieren. Aber so kurz vor dem Ziel aufgeben? Undenkbar.

Ehemaliges Skigebiet Super Saint Bernard - Col de Menouve

Ehemaliges Skigebiet Super Saint Bernard - Col de Menouve

Und so stehe ich rund zweieinhalb Stunden nach meinem Aufbruch an der Talstation an einem der wohl geheimnisvollsten Orte der Alpen. Nicht viele Menschen dürften ihn seit der Betriebseinstellung 2010 betreten haben. Da und dort hat der Schnee die Wände des Betonbunkers eingedrückt. Ansonsten scheint alles so, als könne man die Bahn gleich wieder in Betrieb nehmen.

Einzig das Restaurant im Obergeschoss der Bergstation ist sichtbar vom natürlichen Verfall gezeichnet. Auf eine nähere Erkundung verzichte ich aus Sicherheitsgründen. Die Einsturzgefahr ist allgegenwärtig. Zwei leere Bierflaschen stehen auf dem Tresen. Vielleicht stammen sie von der letzten Pistenkontrolle. Vielleicht auch vom traditionellen Saisonabschluss. In der Station selbst hängen die vollständig erhaltenen Kabinen an den Abstellgleisen. Fast so, als könnten sie jederzeit zur nächsten Talfahrt aufbrechen. Doch zumindest an einem Drahtseil werden sie die Talstation nie mehr erreichen.

Ehemaliges Skigebiet Super Saint Bernard - Col de Menouve

Ehemaliges Skigebiet Super Saint Bernard - Col de Menouve

Ehemaliges Skigebiet Super Saint Bernard - Col de Menouve

Ehemaliges Skigebiet Super Saint Bernard - Col de Menouve

Ehemaliges Skigebiet Super Saint Bernard - Col de Menouve

Ehemaliges Skigebiet Super Saint Bernard - Col de Menouve

Ehemaliges Skigebiet Super Saint Bernard - Col de Menouve

Der Mythos Super Saint Bernard

Was mit den Überresten passieren soll, weiß niemand. Vielleicht werden sie eines Tages abtransportiert, wenn doch noch ein Neubau zustande kommt. Ideen gibt es immer noch viele. Sicher aber ist nur, dass es das Skigebiet in seiner einstigen Form nie mehr geben wird. Für alle Seilbahn- und Saint-Bernard-Liebhaber wäre es erfreulich, wenn die Reste als Denkmal in ihrer jetzigen Form erhalten blieben und sich selbst überlassen würden. Gemeinsam mit der ehemaligen Furggen-Bergstation in Cervinia übt dieser Ort eine Faszination aus, die ihresgleichen sucht. Es ist ein Mythos. Der Mythos Super Saint Bernard.

Der Abschied vom Col de Menouve fällt mir daher schwer. Ich weiß nicht, ob ich diesen Ort jemals wieder betreten werde. Vielleicht möchte ich ihn auch gar nicht mehr betreten, sofern sich an der Infrastruktur etwas ändert. Ich möchte ihn so in Erinnerung behalten, wie ich ihn heute vorfinde. Einsam, kalt, verlassen und geheimnisvoll. Denn die Bergstation erzählt eine Geschichte. Die Geschichte eines Skigebiets, dessen Zeit 2010 stehen geblieben ist.

Ehemaliges Skigebiet Super Saint Bernard - Col de Menouve

Ehemaliges Skigebiet Super Saint Bernard - Col de Menouve

Ehemaliges Skigebiet Super Saint Bernard - Col de Menouve

Ehemaliges Skigebiet Super Saint Bernard - Col de Menouve

Ehemaliges Skigebiet Super Saint Bernard - Col de Menouve

Ehrfürchtig drehe ich mich ein letztes Mal um, bevor ich den Abstieg beginne. Es ist ein beschwerlicher Weg. Unterwegs treffe ich auf einen ehemaligen Wegweiser, abgebrochene Skistöcke und die Überreste des Tunnels, der die Skifahrer einst in ein Seitental zu weiteren Abfahrten führte.

Auf halber Strecke verfolgen mich einige Kühe. Sie sind es nicht gewohnt, dass Fremde das ruhende Skigebiet stören. Die Wächter des Super Saint Bernard, sie sind auf der Hut.

Ehemaliges Skigebiet Super Saint Bernard - Col de Menouve

Ehemaliges Skigebiet Super Saint Bernard - Col de Menouve

Ehemaliges Skigebiet Super Saint Bernard - Col de Menouve

Mich führt der Weg weiter zum Kleinen Sankt Bernhard. Der Passübergang verbindet Italien und Frankreich in den Sommermonaten. Im Winter ziehen hier anders als beim großen Bruder noch immer Skifahrer ihre Spuren durch den Schnee. Das Skigebiet zwischen La Thuile in Italien und La Rosière in Frankreich ist ein blühender Tourismusmagnet. Dass dem Skigebiet das Schicksal von Super Saint Bernard widerfährt? Undenkbar.

14 Gedanken zu „Super Saint Bernard – Sagenumwobene Ruinen in den Schweizer Alpen“

  1. toller Schreibstil, beeindruckende Bilder. Felix, mach weiter so ;-)
    …Kaum zu glauben, dass es noch gar nicht so lange her ist als das noch alles in Betrieb war.

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    • Ja, wirklich sehr traurig, wenn man das alles verfallen sieht. Ich habe es leider nie dorthin geschafft, als das Gebiet noch in Betrieb war. Ärgere mich heute noch darüber, denn das war wirklich genau nach meinem Geschmack …

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  2. Ich finde es sehr sehr schade das die Bahnen nicht mehr im Betrieb sind. Denn die Giovanola Bahnen werden immer Seltener. Mein Seilbahnherz ertrinkt bei diesen Ansichten im Blut.

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    • Hallo Louis,

      ja stimmt, viele Giovanola-Bahnen gibt es wirklich nicht mehr. Ich hoffe sehr, dass uns wenigstens das Klemmensystem bei einer Anlage von einem Lizenznehmer noch etwas länger erhalten bleibt. Die Originale von Giovanola dürften wohl innerhalb der nächsten Jahre aussterben. :-(

      Beste Grüße
      Felix

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  3. Sehr schön geschrieben und tolle Aufnahmen, gratuliere!

    Ich war letzten Samstag auch das erste Mal auf der Bergstation oben.. sieht noch ziemlich ähnlich aus wie auf deinen Bildern ;-)

    (Video findet man auf Youtube mit „Super Saint Bernard“)

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