„Tre giornalieri“ funkt der Kabinenbegleiter beim Schließen der Türen an seinen Kollegen in der Bergstation. Drei Tagesgäste. In der Tat findet sich außer uns niemand für die Bergfahrt ein. Überhaupt präsentiert sich die Umgebung gespenstisch leer wie nach einer Apokalypse in einem Science-Fiction-Film. Passend zur Endzeitstimmung zwischen den verlassenen Gebäuden ziehen immer wieder Nebelschwaden lautlos über den Bergrücken. Lediglich die unzähligen weißen Kastenwagen, die verstreut auf dem riesigen Parkareal herumstehen, verleiten zu der Annahme, dass es irgendwo in der Nähe doch noch etwas belebter zu und her gehen muss.
Als sich die Kabine begleitet von einem lauten Alarm langsam in Bewegung setzt, blitzt die Sonne wieder zwischen den Wolken hervor. Die wärmenden Strahlen erinnern daran, dass heute der voraussichtlich heißeste Tag des Jahres bevorsteht. Auf bis zu 36 Grad Celsius sollen die Temperaturen im Laufe des Tages klettern. Nicht zuletzt deshalb mustert uns der Kassierer argwöhnisch, als wir kurz zuvor mit geschulterten Ski die Gänge der Seilbahn-Talstation betreten. Hier oben in knapp 2.800 Metern Höhe ist es zwar bedeutend frischer als im Flachland. Aber am heutigen Tag dem Wintersport zu frönen scheint ein Widerspruch in sich.
Skifahren am heißesten Tag des Jahres
Doch es ist gar nicht die Tatsache, dass wir mit Wintersportgeräten und Helmen unterwegs sind, die den Herrn an der Kasse stutzig macht. Vielmehr ist es die Uhrzeit, zu der wir hier aufkreuzen. Mittlerweile ist es kurz nach neun Uhr vormittags. Im Winter eigentlich eine gute Zeit, um auf die Piste zu gehen. Im Sommer ist das – sofern man denn überhaupt auf die Idee kommt – ein wenig anders. Wer skifahren will, der sollte kein Morgenmuffel sein. Der frühe Aufgang, die Wärme und die Intensität der Sonne verleihen dem Schnee auf den Abfahrten spätestens um die Mittagszeit eine selten für himmlische Erquickung sorgende Konsistenz. Auch die Seilbahn, mit der wir die 3000-Meter-Marke hinter uns lassen, ist daher bereits seit 6.30 Uhr in Betrieb.
Zu diesem Zeitpunkt trennen uns aber noch fast drei Autostunden und ebenso viele Gebirgspässe von der Talstation. Die Liebe zum Skisport muss zweifelsohne groß sein, um solche Strapazen für ein paar Stunden im Schnee zu überstehen. Über den Julier-, Ofen- und Umbrailpass steuern wir für einen Tagesausflug das Stilfser Joch an, seines Zeichens einer der höchsten befahrbaren Passübergänge der Alpen. Egal ob auf zwei oder vier Rädern, egal ob motorisiert oder nicht, die kurvenreiche Verbindung von Trafoi nach Bormio mit Blick auf die Ortlergruppe übt schon seit mehr als einem Jahrhundert eine unerreichte Faszination auf Touristen aus nah und fern aus.
Mythos Sommerski am Stilfser Joch
Doch der Name des norditalienischen Alpenpasses steht noch für einen weiteren Mythos – Sommerski. Der Kontrast zwischen der warmen beigefarbenen Fassade und den zweisprachigen, dunkelblauen Schriftzügen auf der Seilbahnstation akzentuiert das Paradoxon nur zu gut. Skifahren – der Klassiker unter den Wintersportarten – auf dem Stilfser Joch seit Jahrzehnten wie selbstverständlich exklusiv mitten im Hochsommer.
Was heute wie aus einer anderen Welt erscheint, ist einst alles andere als ungewöhnlich. An die 60 verschiedene Gebiete in den Alpen ermöglichen in den 1970er und 1980er Jahren Skigenuss in den Sommermonaten. Teilweise sind es größere Skiareale, die sich den Luxus einer Ganzjahressaison gönnen und wahnwitzige Anstrengungen für die Erschließung weit entfernter Gletscher unternehmen. Teilweise sind es aber auch kleine Restschneefelder an hohen Passübergängen und einzelne Liftanlagen, bis zu deren Talstation erst ein mehrstündiger Fußmarsch in Kauf genommen werden muss. Ohne Zweifel genießt Sommerski seinerzeit einen anderen Stellenwert in den Köpfen der Menschen. Es liegt voll im Trend, die Badehose gegen zwei Bretter zu tauschen und in Schlaghosen und T-Shirt zwischen den Gletscherspalten die Piste hinab zu wedeln. Das kühle Nass erfreut fortan auch in gefrorener Form.
Tausende beigesterte Schneesportler bringen die Motoren ihrer Käfer und Enten auf dem Weg zu den hohen Alpenpässen an den Rand der Verzweiflung. Manch einer verbringt eine ganze Woche oder zwei, um vormittags den Schnee und nachmittags die Sommersonne im Liegestuhl zu genießen. Auch am Stilfser Joch zeugen üppige Hotelbauten noch heute von dieser Zeit. Doch viele von ihnen haben die letzten Gäste empfangen, da waren die Ski noch zwei Meter lang und die Anzüge neongelb. Wo einst Musik aus der Jukebox klang, bröckelt heute der Putz.
Auslaufmodell Sommerski?
Gerade einmal ein Dutzend Sommerskigebiete sind in den Alpen übrig geblieben. Und trotz künstlicher Beschneiung und Abdeckung der Gletscher mit Matten öffnen die wenigsten davon den kompletten Sommer über. Meist aus wirtschaftlichen Gründen, denn Eis gäbe es an vielen Orten noch genug. Immer häufiger werden die Gletscher nur noch für eine Streckung der Wintersaison in den Herbst und Frühling genutzt. Wintersport im Sommer – der Reiz des Unvereinbaren scheint verflogen.
Ist die einstige Breitensportart Sommerski also nur noch ein Auslaufmodell? Um das herauszufinden gibt es wohl keinen besseren Ort als das Stilfser Joch. Denn weil die Passstraße nur in den Sommermonaten befahren werden kann, ist auch das Skigebiet ausschließlich während dieser Zeit in Betrieb – eine heute alpenweit einmalige Konstellation.
Skifahren am Stilfser Joch – Seit fast neun Jahrzehnten
Die Idee zur Erschließung des Gletschers für Sommerski datiert bereits aus den 1930er Jahren. Seinerzeit entsteht auf dem knapp 3.200 Meter hohen Livrio eine Hütte des italienischen Alpenclubs, der dort Ski- und Eiskletterkurse abhält. Nach dem Zweiten Weltkrieg treibt ein gewisser Giuseppe Pirovano die Entwicklung durch die Eröffnung einer Sommerskischule und mehrerer Hotels weiter voran. Pirovanos Name ziert auch heute noch zahlreiche Gebäude, darunter die noch vorhandene Bergstation einer der ersten Seilbahnanlagen von der Passhöhe zum Gletscherrand.
Neben einer Einersesselbahn transportiert einer der in Italien damals häufig anzutreffenden Korblifte die Gäste zur Station Trincerone. Mitsamt ihrer Sportausrüstung springen die Gäste bei voller Fahrt in einen der Körbe, um später ähnlich spektakulär wieder auszusteigen. Die erste Hürde gilt es also noch lange vor der eigentlichen Abfahrt zu überwinden.
Wirklich viel vertrauenswürdiger sieht die aktuelle Seilbahn mit ihren drei Betonstützen aus der Produktionsserie Zahnstocher auch nicht aus. Das Dach der Station ist von Rost überzogen, in der Kabine rumpelt es bei jeder Stützenüberfahrt. Aber die 1978 eingeweihte Anlage bringt uns sicher zur ersten Zwischenstation. Einige Skifahrer treten zu dieser Zeit bereits die Talfahrt in der Gegenkabine an. Eine Skipiste bis zur Passhöhe gibt es zwar, genug Schnee liegt aber normalerweise nur in der Randsaison.
Eine gar nicht mehr so neue Weltneuheit
Nicht alle Skifahrer kehren jedoch täglich zurück zur Passhöhe. Auch an der Zwischenstation Trincerone gibt es in mehreren Hotels Übernachtungsmöglichkeiten. Unübersehbar haben diese ihre besten Zeiten ebenfalls schon hinter sich, sie fügen sich damit aber optisch bestens ins Gesamtbild ein. Gleiches lässt sich inzwischen auch der weiterführenden zweiten Seilbahnsektion attestieren. Im Jahr 2000 entsteht an dieser Stelle das erste sogenannte Funifor der Welt – eine Abwandlung der klassischen Luftseilbahn mit zwei voneinander unabhängigen Kabinen und einer besonders windsicheren Anordnung der Seile. Mittlerweile trifft man in den Alpen auf rund ein Dutzend solcher Bahnen. Der Schriftzug auf den Kabinen der Anlage am Stilfser Joch weist aber immer noch auf die Weltneuheit hin, die hier nun schon seit zwei Jahrzehnten im Einsatz ist.
Sie ist nach wie vor die jüngste infrastrukturelle Errungenschaft, zeugt aber bereits vom natürlichen Verfall, dem hier oben alles ausgesetzt ist. In der Bergstation dauert es knapp zwei Minuten und einige Fußtritte, bis der Kabinenführer die Tür endlich öffnen kann. Beruhigend, dass bei einer Panne unterwegs die zweite Kabine theoretisch jederzeit zur Hilfe eilen könnte. Wenn sie denn nicht ihrerseits schon den ganzen Vormittag verlassen mitten auf der Strecke hoch über dem Gletscher hängen würde.
Die Geister, die ich rief
Von der weitaus vertrauenswürdiger erscheinenden Aussichtsplattform neben der Station sind die Ausblicke jedenfalls gewaltig. Nicht nur auf den Gletscher unterhalb, sondern auch auf die umliegenden Berge. Schade nur, dass ausgerechnet die alles überstrahlende Ortlergruppe von hier genau hinter einem Gebäude liegt. Es ist das Rifugio Piccolo Livrio, die Hütte, an der hier in den 1930er Jahren alles beginnt. So piccolo sieht das Gebäude heute von außen gar nicht aus, aber vielleicht bezieht sich die Bezeichnung auch nur auf den ohne Einsturzgefahr nutzbaren Teil. Wir ziehen einer näheren Erkundung jedenfalls den Weg zu den Schleppliften vor. Auch dieser gestaltet sich angesichts des Gletscherrückgangs abenteuerlich. Rund 20 Höhenmeter geht es in Skischuhen über einen steilen Geröllhang hinab. Treppen, Geländer, Gummimatten? Fehlanzeige! Wer die Schlepplifte erreicht, hat sämtliche Koordinations- und Aufwärmübungen schon hinter sich.
Die am Livrio startenden Geisterlifte bedienen die Paradehänge des Gletschers. Benannt sind sie aber nicht nach den vermeintlichen Gastgebern im Rifugio Piccolo Livrio, sondern nach der 3.467 Meter hohen Geisterspitze, an deren Fuß sich ihre Bergstation befindet. Nach einem fast ebenen Beginn geht es gegen Ende immerhin gut 200 Meter in die Höhe. Eines wird hier jedenfalls schnell offensichtlich. Die überwiegende Mehrheit der Fahrgäste sind Nachwuchsrennfahrer und deren Entourage, die auch die Hotels und Lager hier oben okkupieren. Andere Individualskifahrer müssen wir auf den breiten Hängen schon bewusst suchen. Aber es gibt sie doch noch, die Leute, die bei nun 15 Grad Celsius in Jeans und Sweatshirt durch den Schnee pflügen.
Im Südwesten nichts Neues
Über einen Hang mit erstaunlich guter Schneequalität erreichen wir nach der Bergfahrt den hinteren, südwestlichen Teil des Skigebiets. Die Schlepplifte Cristallo und Payer – letzterer benannt nach dem Forscher und Offizier Julius von Payer – erschließen hier einige weitere Abfahrten. Zumindest in der Theorie, denn der Payer-Lift ist nach einem Blitzeinschlag in der Nacht zuvor bis auf weiteres außer Betrieb. Damit fällt ein Viertel der Aufstiegshilfen auf dem Gletscher weg, die zugehörigen Pisten sind auf Umwegen aber trotzdem fast alle erreichbar. Der obere Teil des Schlepplifts kann wegen des Gletscherrückgangs ohnehin schon seit Jahren nicht mehr befahren werden. Inzwischen ragt eine mehrere Meter hohe Felswand aus dem Eis. Lautlos schaukeln die arbeitslosen Teller hier am Seil.
Am Schlepplift Cristallo geht es dafür umso lebhafter zu und her. Die Rennkids drängeln sich mit all ihrer Erfahrung gekonnt an den wenigen Individualskifahrern vorbei, ehe der Liftangestellte für Ordnung sorgt. Nicht jeder zeigt sich einsichtig. Dementsprechend temperamentvoll gestalten sich die Diskussionen, doch die Atmosphäre an der Talstation mit Gartenbank, Liegestuhl und Gummipalme ist trotzdem unschlagbar. Übertroffen wird das surreale Kolorit nur noch vom Kontrollhäuschen des Schlepplifts, das in seinem letzten Leben vermutlich auf einem sowjetischen Atombombentestgelände als letzter Unterschlupf diente.
Trotz unserer vergleichsweise späten Ankunft genießen wir daher noch einige schöne Stunden auf dem Gletscher. Bis wir alle möglichen Abfahrtskombinationen einmal gefahren sind, ist der Vormittag auch schon fast vorüber. In der Zwischenzeit verschwinden nach und nach auch die dichten Stangenwälder auf den Trainingspisten. Bevor die Pistenmaschinen für den Folgetag ausrücken, besteht somit die Möglichkeit, noch den einen oder anderen neuen Hang kennen zu lernen.
Letzte Bergfahrt am Stilfser Joch
Einerseits ist es schade, die ausgefahrenen Pisten nur noch als Abfallprodukt der Trainingsgruppen befahren zu dürfen. Offensichtlich ist aber spätestens zu diesem Zeitpunkt auch, dass das Kapitel Sommerski ohne diese Nachwuchsrennfahrer und Trainingscamps der Profis vermutlich schon längst der Vergangenheit angehören würde. Genau wie in den restlichen verbliebenen Sommerskigebieten sind sie es, die einen Betrieb überhaupt erst halbwegs rentabel machen. Von den paar Verrückten, die wie wir Sommerski als Lebenseinstellung ansehen, kann heute niemand mehr leben. Am Stilfser Joch kommt noch ein entscheidender Faktor hinzu. Anders als in Destinationen, die Sommerski als Marketinginstrument subventionieren, muss hier im Sommer der Rubel rollen. Denn einen Winter gibt es nicht.
Dass die Lifte bis um 12.45 Uhr in Betrieb sind, interessiert außer uns niemanden. Schon eine halbe Stunde vorher kommen wir in den Genuss eines Privatskigebiets. Ähnlich verdutzt wie der Kassierer in der Talstation starrt uns der Liftwart an, als wir kurz vor Schluss noch einmal die Geisterlifte ansteuern. „Ultima salita“ – „letzte Bergfahrt“ ruft er uns zu. Für heute ist es gewiss die letzte. Doch der Satz ruft ins Gedächtnis, was schon den ganzen Tag irgendwie in der Luft liegt. Unweigerlich wird sich auch die Zeit des letzten reinen Sommerskigebiets der Alpen früher oder später dem Ende zuneigen.
Bereits heute führt der Weg nur noch über ein künstlich aufgeschüttetes Schneeband zurück zur Station Trincerone. Ewig wird man diese Geröllwüste im Hochsommer nicht mehr auf zwei Brettern erreichen können. Vorbei sind die Zeiten, als hier am Gletscherrand die ersten Schlepplifte in Richtung der Naglerspitze führen. Über ein Dutzend Anlagen zählte der Gletscher zu seinen besten Zeiten. Heute ist nur noch das Quartett an Schleppliften im oberen Teil übrig geblieben.
Über die Zukunft des Sommerskis
Wie lange sich die Rollen auf dem Gletscher wohl noch drehen? Wie lange der Gletscher überhaupt noch existiert? Trotz aller klimatischen Veränderungen wird es letztlich wohl eher eine wirtschaftliche Frage sein, ob ein reines Sommerskigebiet auch in einigen Jahrzehnten noch überlebensfähig ist. Vielleicht geht das Stilfser Joch aber auch den gleichen Weg wie andere Destinationen und weitet die Saison mit einer Zubringerbahn aus dem Tal auf den Winter aus. Pläne dafür gibt es bereits seit geraumer Zeit.
Für den Moment lässt sich eines jedenfalls trotzdem konstatieren. Sommerski lebt. Zwar in einer anderen Form und mit einem kleineren Interessentenkreis als zu den Hochzeiten vor 30 Jahren. Aber doch soweit, dass die Zukunft zumindest für das nächste Zeit gesichert scheint. Wir sind offenkundig nicht die einzigen, die dem scheinbaren Widerspruch von Sommer und Ski etwas abgewinnen können. Und wer weiß schon, ob im Zuge immer höherer Temperaturen die sommerliche Abkühlung im Schnee nicht doch wieder bei der breiten Masse für Begeisterung sorgen kann? Es wäre nicht die erste Renaissance einer vermeintlichen Modeerscheinung. Den authentischen Retro-Look hätte das Stilfser Joch auf jeden Fall schon mal.
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Felix ist Fotograf und Autor, spezialisiert auf Landschafts- und Reisefotografie und zu Hause im Saarland und der ganzen Welt. Wenn er nicht gerade in der Natur oder den Bergen unterwegs ist, schreibt er hier über seine Reisen, die Fotografie oder über sein liebstes Fortbewegungsmittel, die Seilbahn.
Vielen Dank für den spannenden Bericht.
Vielleicht wagen wir im nächsten Sommer auch mal einen Ausflug.
Lustig sieht man keine Snowboarder auf den Bilder… :-)