Über 700 Kilometer schlängelt sich das Asphaltband der Route des Grandes Alpes vom Genfer See bis zum Mittelmeer. Die Straße ist eines der beeindruckendesten Bauwerke der französischen Alpen und seit ihrer Fertigstellung zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Herausforderung für Mensch und Maschine. Sechs der Passübergänge auf der Route übersteigen die 2.000-Meter-Höhenmarke. Unter ihnen befindet sich auch der höchste asphaltierte Straßenpass der Alpen – der Col de l’Iseran in 2.764 Metern Seehöhe.
Die Route des Grandes Alpes – ein französisches Meisterwerk
Von dort aus geht es weiter nach Süden über den Col du Télégraphe, den Col du Galibier, den Col du Lautaret, den Col d’Izoard und den Col de Vars. Letzterer ist einer der am besten ausgebauten Pässe der Straße und als einer der wenigen auch während der Wintermonate geöffnet. Ganz anders sieht es da beim nächsten, weiter südlich gelegenen Pass entlang der Route aus. Der Col de la Cayolle ist nicht mehr als eine schmale Nebenstraße, meist einspurig und äußerst kurvenreich. Da verwundert es doch ein wenig, dass die Routes des Grandes Alpes ausgerechnet über diesen knapp 2.400 Meter hohen Gebirgsübergang führt. Denn die Straße lässt damit nämlich eine viel größere Straße und einen weitaus spektakuläreren Alpenpass aus – den Col de la Bonette.
Von Jausiers auf den Col de la Bonette
Der Grund dafür ist allerdings bei genauerem Hinsehen schnell gefunden. Der Col de la Cayolle ist bereits zum Zeitpunkt des Baus der Route des Grandes Alpes ein vielgenutzter Übergang, der Barcelonette mit den sonnigen Alpenausläufern der Provence verbindet. Am Col de la Bonette finden sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts lediglich inoffizielle Straßen, die mehrheitlich zum Bau von militärischen Einrichtungen in den Berg gefräst werden. Um 1890 beginnt die Errichtung dieser Bauwerke, von denen heute entlang der Passstraße noch einige Ruinen erhalten geblieben sind.
Militärische Bauwerke sind es auch, die ab den 30er Jahren den Ausbau der Straße von der Nordseite in Richtung des Col de la Bonette bewirken. In erster Linie zählen hierzu Bunkeranlagen der Maginot-Linie, von denen heute unweit der Passhöhe ebenfalls Überreste unschwer zu erkennen sind. Erst zu Beginn der 60er Jahre erfolgt der Bau der heutigen Passstraße. Von der Ortschaft Jausiers auf der Nordseite schlängelt sich die Straße kurvenreich zunächst durch Nadelwälder. Anschließend geht es mehr und mehr über Matten den Berg empor. Auf 2.680 Metern tangiert sie den Col de Restefond, der gleichzeitig den Eingang zum Nationalpark Mercantour darstellt. Hier oben sind auch die bis dahin stets begleitenden Bergwiesen verschwunden. Fortan führt die Straße durch eine gespenstige Geröllwüste, die einer Mondlandschaft gleicht.
Von der Passhöhe über das Tinée-Tal Richtung Mittelmeer
Weit ist es von hier aus nicht mehr, bis die Passhöhe des Col de la Bonette in 2.715 Metern Höhe erreicht ist. Auf der Südseite fällt die Straße in das Tinée-Tal hinab und überquert dort zunächst den 2.315 Meter hohen Col de Raspaillon. Zwischen diesem und dem Col de Restefond exisiert eine weitere Straßenverbindung. Diese kleine Gebirgsstraße ist jedoch für den öffentlichen Verkehr gesperrt.
Schließlich erreicht die Bonette-Passstraße die Ortschaft Saint-Étienne-de-Tinée. Von hier aus geht es weiter talauswärts in Richtung des Flusses Var, dem die Straße in der Folge bis nach Nizza folgt. Im Sommer kann alternativ über eine Seitenstraße der Col de la Lombarde erreicht werden, der eine Verbindung ins italienische Cuneo ermöglicht.
Der höchstgelegene, auf öffentlichen und asphaltierten Straßen erreichbare Punkt Europas
Mit seiner Passhöhe von 2.715 Metern liegt der Col de la Bonette knapp hinter dem weiter nördlich gelegenen Rekordhalter, dem Col de l’Iséran. Allerdings ist auf der Passhöhe die Welt noch nicht zu Ende. Statt durch den schmalen Felsdurchschlag zu fahren, bietet sich eine alternative Route über die Cime de la Bonette an. Diese wenige Kilometer lange Zusatzschleife führt bis 2.802 Meter Seehöhe. Dem höchsten Punkt in Europa, der auf öffentlichen, asphaltierten Straßen erreichbar ist. Ein höheres Asphaltband findet sich lediglich auf der Ötztaler Gletscherstraße im österreichischen Sölden. Diese stellt allerdings eine mautpflichtige Privatstraße dar und ist im Gegensatz zur Cime de la Bonette eine Sackgasse.
Als vergleichsweise unwichtige Passverbindung hält sich das Verkehrsaufkommen am Col de la Bonette in Grenzen. Den größten Teil des motorisierten Verkehrs stellen Touristen dar, die nahezu ausnahmslos den Umweg über die Cime de la Bonette in Angriff nehmen. Der Weg lohnt sich, denn der Blick von der Cime über den Nationalpark Mercantour ist sehenswert. In etwa zehn Minuten kann der Aussichtspunkt samt seiner Panoramatafel von der Straße aus zu Fuß erreicht werden. Einen gesonderten Parkplatz gibt es nicht, entlang der Straße bieten sich aber genügend Möglichkeiten, dem Auto oder Wohnmobil nach der langen Bergfahrt eine Pause zu gönnen.
Bonette oder Moutière? Die Höhe entscheidet!
Wäre es darum gegangen, eine möglichst schnelle Nord-Süd-Verbindung zu erstellen, hätte man vermutlich eine Routenführung über den nahegelegenen Col de la Moutière gewählt. Mit 2.454 Metern liegt dieser deutlich tiefer. Auch die Distanz zwischen den beiden Talorten Jausiers und Saint-Étienne ist einige Kilometer geringer. Dass die Straße daher überhaupt über den Col de la Bonette führt, dürfte einzig ihrer rekordverdächtigen Höhe geschuldet sein. Das Vermarktungspotential als höchste öffentliche Straße Europas sowie die einzigartige Aussicht über den Nationalpark Mercantour sorgen auch heute noch dafür, dass der Col de la Bonette ein Touristenmagnet ist.
Aber auch der Col de la Moutière ist über eine öffentliche Straße erreichbar. Von Süden beginnt der Aufstieg Saint-Delmas-le-Delvage und ist mittlerweile bis zur Passhöhe vollständig asphaltiert. Die wesentlich kürzere Nordrampe führt in Form einer Schotterstraße schließlich zum Col de Restefond und damit auf die Bonette-Passstraße. Darüber hinaus besteht die Möglichkeit, über eine schmale und sehr lange Schotterstraße auf der Nordseite durch das Vallon de la Moutière die Ortschaft Bayasse westlich und weit unterhalb der Passhöhe zu erreichen. Diese befindet sich wiederum an einer gewissen D902 – der Route des Grandes Alpes. Denn Bayasse liegt auf der Nordrampe des Col de la Cayolle.
Eine Durchquerung nahezu aller Vegetationszonen der Alpen
Es ist unübersehbar, dass die Straße über den Col de la Bonette in erster Linie eine Straße für Touristen ist. Aber egal ob für Zwei- oder Vierräder, motorisierte oder nicht-motorisierte Gefährte. Der lange Weg über die Cime de la Bonette ist eine Fahrt wert. Beeindruckend ist neben der Aussicht insbesondere der endlos scheinende Aufstieg über 23 Kilometer und mehr als 1.500 Höhenmeter von Jausiers bis zur Passhöhe. Vom tiefsten bis zum höchsten Punkt der Straße durchquert man hier nahezu alle Vegetationszonen der Alpen. Gepaart mit den Blicken auf die schaurigen Überreste der Militäranlagen ist eine Fahrt über den Col de la Bonette ein Abenteuer, das man nicht so schnell vergisst.
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Felix ist Fotograf und Autor, spezialisiert auf Landschafts- und Reisefotografie und zu Hause im Saarland und der ganzen Welt. Wenn er nicht gerade in der Natur oder den Bergen unterwegs ist, schreibt er hier über seine Reisen, die Fotografie oder über sein liebstes Fortbewegungsmittel, die Seilbahn.
Hallo, vielen Dank für den tollen Bericht, ich war auch schon dort bei herrlichem Wetter, ein absolutes Erlebnis. Nur zur höchsten, geteerten Straße habe ich eine Korrektur, die Straße zum Rettenbachferner durch das Rosi-Mittermeier-Tunnel kommt auf 2829m üNN, also ein kleines bisschen höher, und auf hervorragendem Teer.
Weiter so und liebe Grüße