Jeder, der über die Gotthardroute schon einmal in den Süden gefahren ist, hat sie bereits gesehen. Die Kabinenbahn von Rivera zum Monte Tamaro. Direkt hinter dem südlichen Portal des Tunnels am Monte Ceneri überquert die Seilbahn die Schweizer Autobahn A2 von Bellinzona nach Lugano. Der grösste Teil der Touristen auf dieser Strecke wird die Bahn aber wahrscheinlich noch nie gefahren sein. Doch die Ausfahrt Rivera zu nehmen und der Bahn einen Besuch abzustatten, lohnt sich allein schon wegen ihrer spannenden Geschichte und ihrer besonderen Technik.
Die Pioniere Carlevaro e Savio
Die technischen Besonderheiten stechen auf den ersten Blick ins Auge. Die an der Anlage eingesetzte Klemme mit ihrem markanten Kuppelhebel geht auf die italienische Firma Carlevaro e Savio zurück. Die beiden Seilbahnpioniere Ugo Carlevaro und Felice Savio gründen die Firma 1945 und konzentrieren sich in den darauffolgenden Jahren auf die Entwicklung der Klemme für Einseilumlaufbahnen. Bereits 1949 kann eine erste Anlage mit zweiplätzigen Kabinen in Alagna im Piemont den Betrieb aufnehmen – noch bevor die später ebenso populären Schweizer Klemmensysteme von Giovanola, Müller und Von Roll das Licht der Welt erblicken.
In der Folge entstehen vorrangig in Italien unzählige Kabinenbahnen mit dieser Klemme. Als Vorreiter setzt Carlevaro e Savio sie in den 60er Jahren sogar bei ersten Sesselbahnen mit Haube ein. Finanzielle Schwierigkeiten sorgen jedoch Ende des Jahrzehnts dafür, dass die Firma durch das italienische Traditionsunternehmen Agudio übernommen wird. Der Hersteller ist zu diesem Zeitpunkt bereits seit vielen Jahrzehnten im Bau von Standseilbahnen und Pendelbahnen tätig, auch beim Bau der legendären Kabinenbahn Vallée Blanche am Mont Blanc wirkt das Unternehmen mit. Die Kuppeltechnik für Einseilumlaufbahnen stellt ein neues Geschäftsfeld dar. So entsteht unter dem Namen Agudio 1972 auch die Seilbahn von Rivera auf den Monte Tamaro.
Monte Tamaro – Ein neues Skigebiet im südlichen Tessin
Es ist damit nach langer Zeit die erste Seilbahn in der Schweiz, die mit Carlevaro-Klemmen ausgestattet wird. Letztmalig war die Klemme 1963 in Champéry im Wallis zum Einsatz gekommen, davor unter anderem auch an der nahegelegenen Cimetta oberhalb von Locarno. Ziel der Erschliessung am Monte Tamaro ist es, ein neues Skigebiet im südlichen Tessin aus dem Boden zu stampfen. Mit dem grossen Einzugsgebiet aus Bellinzona, Locarno und Lugano hofft man auf zahlreiche skihungrige Gäste. Gemeinsam mit der Kabinenbahn entstehen eine Sesselbahn und zwei Schlepplifte – allesamt konstruiert von der Schweizer Firma Bühler. Ein weiterer Lift aus dem Hause Städeli folgt wenige Jahre später.
Die ersten schneereichen Jahre sind ein voller Erfolg. Mit der prachtvollen Aussicht, die von den Alpen bis zum Lago di Lugano reicht, ist das Skigebiet eine beliebte Adresse. Doch nach zwei Jahrzehnten Betrieb geraten die Betreiber wegen der immer dürftigeren Schneelage in Schwierigkeiten. Nach der Jahrtausendwende fällt der Entscheid, das Skigebiet stillzulegen. Bald darauf werden die Seilbahnen abgebaut. Der Berg konzentriert sich fortan auf das Sommergeschäft, sodass die technisch interessanteste Anlage auch weiterhin in Betrieb bleiben kann.
Von Rivera zur Alpe Foppa am Monte Tamaro
In zwei Sektionen führt die Kabinenbahn von Rivera über Piano di Mora zur Alpe Foppa in 1530 Metern Höhe unterhalb des Tamaro-Gipfels. Sie überwindet dabei eine Gesamtlänge von 2,5 Kilometern und eine Höhendifferenz von 1053 Metern. Der Grossteil davon entfällt auf die erste Sektion, die auch schon zu Zeiten des Skigebiets als reiner Zubringer dient. Die zweite Sektion mit ihrer Talstation in 1100 Metern Höhe dient damals mit ihrer Abfahrt auch als Beschäftigungsanlage. Auf der Zwischenstation Piano di Mora befinden sich auch die Antriebe beider Sektionen. Reifen- und Kettenförderer sorgen dafür, dass die Kabinen direkt zur nächsten Sektion weitertransportiert werden. Ein Umsteigen ist somit nicht notwendig.
1994 wird die Anlage erneut durch den Hersteller Agudio, der mittlerweile zum Poma-Konzern gehört, saniert. Optisch auffälligster Unterschied sind die neuen Kabinen der Firma Sigma, die die älteren Exemplare aus den 70er Jahren ersetzen. Seither kann die Bahn trotz ihrer verhältnismässig geringen Streckengeschwindigkeit von 3,5 m/s 1000 Personen pro Stunde und Richtung befördern. Obwohl sie nur dem Sommertourismus dient, kommt sie damit an guten Tagen durchaus an ihre Grenzen.
Ein Seilbahn-Unikat auf weiter Flur
Ein Ersatz der Anlage ist derzeit aber glücklicherweise noch nicht in Sicht. Als letzte Seilbahn der Alpen, die noch mit Carlevaro-Klemmen ausgestattet ist, handelt es sich um ein historisch ausgesprochen wertvolles Exemplar. Auch im ganzen restlichen Europa gibt es nur noch eine einzige weitere Bahn, die diesen Klemmentyp noch aufweist. Eine Parkbahn in der deutschen Stadt Saarbrücken, die 1960 in Lizenz durch die Firma Heckel erstellt wird. Sämtliche von Carlevaro selbst erstellten kuppelbaren Anlagen in Italien sind bereits seit Jahrzehnten Geschichte.
Die Seilbahn am Monte Tamaro ist damit allein schon wegen ihrer einmaligen Technik ganz gewiss eine Reise wert. Doch auch die Aussicht auf das Tessin und die umliegenden Berge kann sich sehen lassen. Empfehlenswert ist auch eine Wanderung zum nahegelegenen Monte Lema – wo mit einer Gruppenpendelbahn der Firma Streiff gleich das nächste ausgefallene Seilbahnexemplar wartet.
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Felix ist Fotograf und Autor, spezialisiert auf Landschafts- und Reisefotografie und zu Hause im Saarland und der ganzen Welt. Wenn er nicht gerade in der Natur oder den Bergen unterwegs ist, schreibt er hier über seine Reisen, die Fotografie oder über sein liebstes Fortbewegungsmittel, die Seilbahn.