Aiguille du Midi – Seilbahn der Superlative in Chamonix

Hier oben existiert es noch. Das ewige Eis. Gletscher und Schnee soweit das Auge reicht. Am Mont Blanc, dem höchsten Berg der Alpen, ist das ganze Jahr über Winter. Der Blick auf die Bergwelt, die ihn umgibt, ist überwältigend. Besonders nahe kommt man ihm mit der vielleicht spektakulärsten Seilbahn der Welt. Der Luftseilbahn auf den Gipfel der 3842 Meter hohen Aiguille du Midi.

Von Chamonix auf den Plan de l’Aiguille

Die Reise dorthin beginnt in der Ortschaft Chamonix. Die Gemeinde im Département Haute Savoie ist seit Jahrhunderten das Zentrum des Alpinismus in Frankreich. 1924 finden hier die ersten Olympischen Winterspiele statt, unzählige Bergsteiger und Pioniere sind mit dem Ort verbunden. Auch Touristen zieht die beeindruckende Bergkulisse in ihren Bann. Um den Ausflüglern die Berge und Gletscher etwas näher zu bringen, entstehen schon früh erste seilgezogene Aufstiegshilfen. Zu Beginn der 1950er Jahre folgt dann der Höhepunkt – in zwei Sektionen entsteht eine Luftseilbahn vom Ortsrand in Chamonix bis auf die Aiguille du Midi, einem schroffen Felszacken mitten im Mont-Blanc-Massiv.

Bereits die Strecke der ersten Sektion verleitet zum Staunen. Mit bis zu 100% Steigung geht es den Berg hinauf, über 2,5 Kilometer weit. Nicht weniger als 1275 Höhenmeter überwinden die beiden Kabinen der Pendelbahn auf dem Weg zur Zwischenstation Plan de l’Aiguille in 2300 Metern über dem Meer. Konstrukteur der Anlage ist seinerzeit die Firma Heckel aus Saarbrücken, die in der Zeit der wirtschaftlichen Angliederung des Saarlandes an Frankreich nach dem Zweiten Weltkrieg mehrere Seilbahnen für die Grande Nation errichten kann. Beteiligt ist auch der italienische Seilbahnpionier Dino Lora Totino, seines Zeichens Planer und Konstrukteur mehrerer spektakulärer Luftseilbahnen in den 30er und 40er Jahren. Am 25. Juli 1954 ist es soweit. Die ersten Fahrgäste erreichen die Zwischenstation auf dem Plan de l’Aiguille. Drei Jahre nach Beginn der Bauarbeiten ein grossartiger Erfolg.

Das Jahrhundertbauwerk Aiguille du Midi

Zu diesem Zeitpunkt haben aber bereits längst die Bauarbeiten für eine noch unglaublichere Seilbahn begonnen. Vom Plan de l’Aiguille soll die zweite Sektion ohne Zwischenstützen bis auf den Gipfel führen. Abgesehen von den fehlenden Stützen unterscheidet sich die Bahn noch in weiterer Hinsicht von der ersten Teilstrecke. Während auf dem unteren Abschnitt Kabinen für 80 Personen verkehren, sind es auf der oberen Sektion nur 50-plätzige Fahrbetriebsmittel. Identisch ist aber die Anzahl der Seile. Ein Tragseil und nicht weniger als drei Zugseile kommen je Fahrspur zum Einsatz. Hoch über dem Abgrund überwinden die beiden Kabinen auf 2,9 Kilometern Strecke atemberaubende 1483 Höhenmeter. Wegen der durchhängenden Seile beginnt die Fahrt auf den Gipfel nahezu in der Waagerechten, gegen Ende beträgt die Steigung dann aber bis zu 110%. Am 24. Juni 1955 kommen die ersten Fahrgäste in den Genuss dieses Spektakels.

Im Laufe der Jahre wird die Seilbahn der Superlative immer wieder auf den neuesten Stand der Technik gebracht. Optisch auffällig ist der mehrmalige Ersatz der Kabinen, 1984 weichen die vier Stützen der ersten Sektion drei neuen, höheren Exemplaren. Die bis heute umfangreichste Sanierung erfolgt 1991. Auffälligste Änderung ist die Reduktion der Seile auf jeweils nur noch ein Trag- und Zugseil pro Fahrspur. Auf diese Weise kann auch die komplexe Anordnung von Seilumlenkungen in der Zwischenstation vereinfacht werden. Angetrieben werden beide Sektionen aber auch heute noch vom Plan de l’Aiguille aus. In den neuen Kabinen finden fortan auf beiden Sektionen knapp 70 Personen Platz. Mit bis zu 12,5 m/s oder umgerechnet 45 km/h auf der zweiten Sektion erklimmen sie den Gipfel – ein absolut einmaliges Erlebnis.

Mont Blanc zum Greifen nah

Der Ausblick von der 3791 Meter hoch gelegenen Bergstation der Seilbahn ist imposant. Mit einem Aufzug geht es die verbleibenden Höhenmeter bis auf den 3842 Meter hohen Hauptgipfel. Von dort reicht der Blick über das 2800 Meter tiefer liegende Chamonix bis zum Matterhorn, dem Monte Rosa und natürlich dem Mont Blanc.

Die Gletscherseilbahn Vallée Blanche

Als wäre es nicht schon spektakulär genug, findet die Seilbahn auf der Aiguille du Midi auf dem Gipfel auch noch eine Fortführung. Bereits kurze Zeit nach der Eröffnung der Gipfelbahn kommen Ideen auf, den Berg per Seilbahn mit der in Italien liegenden Punta Helbronner zu verbinden. Der dortige Berggrat ist von Courmayeur im Aostatal aus bereits seit 1947 mit einer Seilbahn erschlossen. Das Problem dabei: Die beiden Berge liegen mehr als fünf Kilometer voneinander entfernt. Und dazwischen gibt es nichts ausser Gletschereis.

Trotzdem wird das Unmögliche möglich gemacht. 1957 nimmt die Télécabine de la Vallée Blanche den Betrieb auf. Die Trassierung ist kaum in Worte zu fassen. Ohne Stütze geht es von der Aiguille du Midi über den Gletscher bis zu einer Kurve in einem Tunnel im Fels des Gros Rognon. Im Anschluss schweben die Kabinen kilometerweit in bis zu 300 Metern Höhe über das ewige Eis, bis sie kurz vor der Punta Helbronner eine an Querseilen über den Gletscher gespannte fliegende Stütze erreichen. Was sich nach Science Fiction anhört, ist an der Aiguille du Midi tatsächlich Realität. Zwölf Gruppen mit je drei kleinen Kabinen ermöglichen hier eine Überquerung der Alpen in über 3500 Metern über dem Meer. Wegen der extremen klimatischen Bedingungen im Hochgebirge muss die Bahn häufig den Betrieb einstellen. Doch eine Fahrt mit ihr ist ein Abenteuer, das man sein Leben lang nicht mehr vergisst.

Zur Erschliessungsgeschichte der Aiguille du Midi

Die Talfahrt vom Gipfel zurück nach Chamonix mit der Pendelbahn ist aber auf ihre Weise nicht weniger spektakulär. Bei der vollen Fahrgeschwindigkeit von 12,5 m/s überwindet die Kabine im oberen, steilsten Teil der Strecke der zweiten Sektion bis zu 500 Höhenmeter pro Minute. So hoch über dem Abgrund fühlt sich das fast wie fliegen an.

Angesichts der unglaublichen Trassierung ist es nicht verwunderlich, dass es mehrere Anläufe braucht, bis die Seilbahn letztlich Realität wird. Die Faszination für den markanten Gipfel ist schon früh allgegenwärtig. So kommen bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts erste Überlegungen auf, die Aiguille du Midi mit einer mechanischen Aufstiegshilfe zu erschliessen. Zwei Schweizer Ingenieure planen im Jahr 1905 eine Verbindung vom Weiler Les Pélerins einige Kilometer westlich von Chamonix zum Gipfel. Zwei Standseilbahnen sollen bis zum Fuss der Aiguille führen, von dort an soll es per Aufzug weiter bis auf den Gipfel gehen. Die Ingenieure sehen dabei die Nutzung des Systems des deutschen Ingenieurs Wilhelm Feldmann vor, das zur gleichen Zeit am Wetterhorn in Grindelwald realisiert wird. Das Projekt in Chamonix scheitert jedoch wegen unüberwindbarer technischer Schwierigkeiten.

Von erfolglosen Anläufen bis zur vollendeten Mission

Bereits kurze Zeit später kommen allerdings weitere Ideen auf. Federführend ist die italienische Firma Ceretti e Tanfani, die statt der beiden Standseilbahnen zwei kostengünstigere Luftseilbahnen vorsieht. Das Unternehmen besitzt zu diesem Zeitpunkt bereits weitreichende Erfahrungen im Bau solcher schwebenden Eisenbahnen, wie sie seinerzeit im Fachjargon heissen. Etwa zur gleichen Zeit entsteht im südtirolerischen Lana eine ähnliche Anlage. In Chamonix  verzögert sich die Fertigstellung der Bahn jedoch. Wegen des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs muss das Projekt bald darauf aufgegeben werden.

Zu Beginn der goldenen 20er Jahre nehmen die Bauarbeiten dann aber wieder Fahrt auf. 1924 kann schliesslich die erste Sektion zur Station La Para eröffnet werden. Drei Jahre später folgt der zweite Abschnitt bis zur Station Les Glaciers in 2800 Metern über dem Meer. Trotz der jahrelangen Verzögerungen darf sich die Seilbahn nach der Fertigstellung mit dem Titel der ersten Luftseilbahn Frankreichs schmücken. Das Projekt zur Gipfelerschliessung wird jedoch vorerst auf Eis gelegt.

1933 beginnen jedoch Bauarbeiten für eine dritte Sektion bis zum 3600 Meter hohen Col du Midi. Auch hier kommen die Arbeiten jedoch aufgrund des unzugänglichen Terrains nur schleppend voran. 1948 wird das Projekt endültig verworfen. Auch die bestehenden ersten beiden Sektionen werden kurz darauf eingestellt. So kommt es dazu, dass 1951 schliesslich die Arbeiten für einen komplett neuen Anlauf zur Gipfelerschliessung beginnen. Vier Jahre später ist die Mission vollendet. Und begeistert auch heute noch als Seilbahn der Superlative.

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