Der Schock sitzt immer noch tief. Keine 48 Stunden ist es her, da habe ich noch die letzten Schwünge des Tages auf den immer noch pulvrigen Pisten der Lenzerheide genossen. Dass es meine letzten der Saison sein werden, ahne ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Nachdem in Italien die Skigebiete wegen des Coronavirus bereits geschlossen sind, liegt zwar etwas in der Luft. In Graubünden gibt es aber bislang so gut wie keine Krankheitsfälle. Und Italien ist gefühlt weit weg. So gehe ich davon aus, dass zumindest das anstehende Wochenende noch für zwei weitere schöne Skitage bereitsteht. Doch wie in den meisten anderen Regionen der Alpen endet auch in Graubünden die Skisaison diesen Winter abrupt am Abend des 13. März.
Am späten Freitagnachmittag gibt der Bundesrat den Entschluss bekannt, dass Freizeitangebote in der Schweiz weitgehend ihren Betrieb einstellen müssen. Ob das aber auch für Skigebiete gilt, ist zunächst unklar. So rücken noch am Abend die Pistenfahrzeuge aus, um die Abfahrten für den nächsten Tag vorzubereiten. Doch dann kommt die Kehrtwende – es ist per sofort Schluss.
Spaziergang durch die Rheinschlucht
Nicht alle Skigebiete in der Schweiz interpretieren die Ansage gleich, sodass ich theoretisch noch nach Engelberg hätte fahren können. Dort wollte ich eigentlich ohnehin im April noch ein Wochenende verbringen. Auch das kleine Skigebiet Malbun im Fürstentum Liechtenstein öffnet seine Pforten weiterhin. Doch die Lust auf derartige Ausflüge ist mir angesichts der ungewissen Lage erst einmal vergangen.
So starte ich sonntags zu einem Alternativprogramm. Ein Spaziergang durch die Rheinschlucht steht auch schon lange auf meiner Agenda. Und das herrliche Frühlingswetter lädt dazu ein, den Tag im Freien zu verbringen. Im Wald und an der frischen Luft ist die Gefahr einer Ansteckung quasi inexistent.
Ein Albtraum, aus dem es kein Erwachen gibt
Von Reichenau führt mich der Weg auf einer Rundtour zunächst hinauf zur Burgruine Wackenau, anschliessend geht es um den Bot Tschavir herum. Mitte März blühen hier bereits die ersten Blumen und es riecht nach Frühling, während tausend Meter oberhalb noch tiefster Winter herrscht. Der Anblick der verschneiten Gipfel in Laax und Obersaxen schmerzt. Die frisch präparierten Pisten glänzen in der Sonne, doch es sind keine Menschen unterwegs. Ein Albtraum, aus dem es kein Erwachen gibt.
Über einen steilen Weg geht es zur Isla Davon und weiter zu einer Hängebrücke über den Rhein. Diese befindet sich gleich neben der Station Trin der Rhätischen Bahn. Eigentlich führt der Weg von hier weiter entlang der Bahnstrecke bis nach Reichenau zurück. Doch ein Hinweisschild lässt mich wissen, dass der Weg geschlossen ist. So nehme ich den kurze Zeit später eintreffenden Regionalexpress, mit dem ich wenige Minuten später den Ausgangspunkt der Wanderung wieder erreiche.
Die Tage auf Reisen sind vorerst gezählt
Auch wenn die Wanderung eine schöne Ablenkung ist, ist die sich verschärfende Situation bezüglich des Coronavirus immer im Hinterkopf. Am Bahnhof in Reichenau erfahre ich, dass Deutschland eine Grenzschliessung für den Folgetag plant. Eine Rückkehr ist für mich mit deutschem Pass zwar weiterhin möglich. Doch es wird immer deutlicher, dass die Tage auf Reisen vorerst gezählt sind. So will ich mich noch ein vorerst letztes Mal der Fotografie widmen. Für den Sonnenuntergang habe ich im Vorfeld verschiedene Punkte entlang der Strasse von Bonaduz nach Versam ausgekundschaftet.
Die Strasse verbindet die Surselva mit den Dörfern am Nordrand des Safientals und führt spektakulär durch die steil abfallende Rheinschlucht. An verschiedenen Orten bieten sich atemberaubende Tiefblicke in die Schlucht. Aber auch das eine oder andere Gebäude gibt in der Nachmittagssonne eine gute Figur ab.
Der letzte Sonnenuntergang
Der Aussichtspunkt Zault bietet an diesem Märztag die beste Aussicht auf die Rheinschlucht mit untergehender Sonne. Während das Wasser des Rheins bereits im Dunkeln liegt, klettern die Schatten langsam die Felswände empor. Kurz darauf verschwindet die Sonne auch hier oben hinter den Ausläufern des Tödi.
Das Bewusstsein, dass ich gerade meinen vermutlich letzten Sonnenuntergang für lange Zeit erlebt habe, stimmt mich nachdenklich. Aus solchen Momenten schöpfe ich normalerweise Energie. Heute fühle ich dagegen nichts als Leere. Mit einem mulmigen Gefühl trete ich die Rückfahrt an.
Nichts als Leere – und doch ein Funken Hoffnung
Am nächsten Morgen führt mich der Weg zurück ins Saarland. Noch kann ich die direkte Strecke über Frankreich nehmen. Doch nur wenige Tage später gibt es nicht einmal mehr ein Entkommen aus der eigenen Wohnung. Nie hätte ich es für möglich gehalten, dass innert so kurzer Zeit die ganze Welt auf den Kopf gestellt wird.
Doch vielleicht ist all das auch eine Chance. Eine Chance, dass wir den Luxus der Welt, wie wir sie kennen, wieder mehr zu schätzen wissen. Eine Chance, zu erkennen, wie wertvoll offene Grenzen und Reisefreiheit in Europa sind. Und eine Chance, uns in Erinnerung rufen, welch ein Privileg Tage wie dieser in der Rheinschlucht sind.
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Felix ist Fotograf und Autor, spezialisiert auf Landschafts- und Reisefotografie und zu Hause im Saarland und der ganzen Welt. Wenn er nicht gerade in der Natur oder den Bergen unterwegs ist, schreibt er hier über seine Reisen, die Fotografie oder über sein liebstes Fortbewegungsmittel, die Seilbahn.