Der Vollmond scheint durch die Seitenscheibe, als ich mich in der Dämmerung auf den Weg mache. Der Jupiter ist der einzige andere Himmelskörper, der zu diesem Zeitpunkt noch mit bloßem Auge erkennbar ist. Über leere Straßen geht es von der Ortschaft Gérardmer durch den südwestlichen Teil der Vogesen. Weit ist der Weg nicht mehr bis zu meinem anvisierten Ziel.
Durch die Ortschaft Xonrupt-Longemer erreiche ich das Ufer des gleichnamigen Bergsees. Wo in einigen Stunden die Osterurlauber in Scharen anzutreffen sein werden, herrscht zu diesem Zeitpunkt noch gespenstige Ruhe. Der Rauch aus dem Schornstein einer an der Straße gelegenen Auberge steigt lautlos empor. Auch der Campingplatz am Lac de Longemer schläft noch. Einzig das Zwitschern der ersten Vögel kündigt den Anbruch des neuen Tages an.
Über die Route des Crêtes zum Hohneck
Von nun an geht es kurvenreich bergauf, immer in Richtung des Col de la Schlucht, der Lothringen vom Elsass trennt. Kurz vor der Passhöhe biege ich auf die Route des Crêtes ein. Diese Straße verbindet in einer Höhe von rund 1000 Metern die höchsten Gipfel des Vogesenkamms. Unter anderem auch den Hohneck, mit 1343 Metern Höhe die dritthöchste Erhebung des Gebirges. Untypisch für ein Mittelgebirge besitzt dieser Berg ein recht hochalpines Erscheinungsbild. Speziell auf der Südostseite fällt das Gelände über steile Felshänge ab. Wegen seiner dominanten Lage ist der Hohneck ein beliebtes Ausflugsziel. Der Ausblick reicht bei klarer Sicht bis in die Alpen.
Von der Route des Crêtes zweigt eine kleine Gebirgsstraße ab, die bis auf den Gipfel führt und den höchsten befahrbaren Punkt der Vogesen erschließt. An ihrem Ende befindet sich das Hotel Hohneck, welches in den Sommermonaten Gäste beherbergt. Im Winter sind sowohl Straße als auch Hotel geschlossen.
Der Hohneck – Ein Eldorado für Naturfotografen
Doch das hochalpine Gelände am Hohneck zieht nicht nur aussichtshungrige Wanderer und Extremskifahrer an, sondern ist auch ein Eldorado für Naturfotografen. Zahlreiche Gämsen leben hier und lassen sich mit etwas Glück an den Hängen rund um das Gipfelplateau beobachten. Speziell zum Sonnenauf- und Sonnenuntergang zieht es die Tiere bis in Gipfelnähe hinauf. Während des Tages stehen die Chancen für eine Beobachtung dagegen eher schlecht. Denn wenn die zahlreichen Wanderer den Gipfel einnehmen, ziehen sich die Gämsen in die tieferen, unzugänglichen Bereiche zurück.
Speziell im Frühling bieten sich gute Chancen für eine Beobachtung. In der Nebensaison werden die scheuen Tiere weniger gestört. Zudem finden die Gämsen in Gipfelnähe mehr Nahrung, weil sich der Schnee in den steilen Felswänden noch deutlich länger hält. Häufig trifft man die Tiere dann oberhalb oder in der Martinswand nördlich des Hohneck-Gipfels an. Weitere Beobachtungschancen bieten sich auch südlich des Gipfels in Richtung des Kastelbergs.
Für eine Beobachtung ist es verlockend, den Weg zum Gipfel bequem mit dem Auto zu bestreiten. Besser ist es jedoch, den Wagen bereits an der Route des Crêtes zurückzulassen und den restlichen Weg zu Fuß zurückzulegen. Bei einem Aufstieg über die Westflanke bemerken die Tiere erst später, dass sie beobachtet werden. Wanderer, die vom Gipfel aus kommen, sind dagegen gleich im Blickfeld. In jedem Fall gilt, dass die markierten Wege keinesfalls verlassen werden sollten. Wer die Gräser abseits der Wege zerstört, raubt den Tieren ihre Nahrungsgrundlage.
Gämsen zum Sonnenaufgang am Hohneck
Nur kurz widme ich mich heute der aufgehenden Sonne. Kurz nach 6.30 Uhr schiebt sich die Sonnenscheibe über die Gipfel des Schwarzwalds und taucht das Elsass und die Ostseite des Hohecks in ein warmes Morgenlicht. Allein wegen dieses Anblicks hat sich die frühe Anreise schon gelohnt. Gämsen kann ich dagegen zu diesem Zeitpunkt noch nicht in Nähe des Gipfelplateaus erspähen. Erst als mich der Weg über den Kamm führt, erblicke ich auf einem Restschneefeld in der Martinswand die ersten Tiere.
Und lange dauert es nicht, da kommen weitere Gämsen direkt auf mich zugelaufen. Die Tiere sind erstaunlich wenig scheu, ja fast schon neugierig, wer sich denn da außer ihnen noch auf die Wiesen des Hohneck verirrt hat. Bis auf etwa zehn Meter Entfernung kann ich mich ihnen nähern, ohne dass sie sich von mir gestört fühlen. Ab und an werfen sie mir einen Blick zu, widmen sich dann aber wieder ihrer Nahrungsaufnahme.
Bald darauf treffe ich auf eine weitere Herde von rund zehn Tieren. Wunderbar posieren sie in der Morgensonne, bevor sie mit fortschreitender Tageszeit mehr und mehr den Rückzug in Richtung der Martinswand antreten. Denn gegen 8.30 Uhr nimmt der Verkehr entlang der Route des Crêtes und auf der Gipfelstraße merklich zu. Immer mehr Wanderer erkunden die Wege rund um den Hohneck, sodass es die Gämsen vorziehen, sich in ruhigere Gefilde zu bewegen.
Morgenpanorama vom Hohneck-Gipfel
Ich tue es den Gämsen gleich und erklimme zum Abschluss meiner morgendlichen Erkundung noch einmal den Gipfel des Hohneck. Obwohl das Hotel geschlossen ist, haben sich mittlerweile rund ein Dutzend Fahrzeuge hier oben eingefunden. Hinzu kommen die zahlreichen Wohnmobile entlang der Route des Crêtes, die hier wohl die Nacht verbracht haben dürften. Campieren ist auf dem Hohneckgipfel explizit verboten, an den Parkplätzen der Kammstraße wird das Wildcampen dagegen offenbar toleriert. Für diejenigen, die nicht ganz so früh für die Gämsenbeobachtung aufstehen möchten, ist das vielleicht eine Alternative.
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Felix ist Fotograf und Autor, spezialisiert auf Landschafts- und Reisefotografie und zu Hause im Saarland und der ganzen Welt. Wenn er nicht gerade in der Natur oder den Bergen unterwegs ist, schreibt er hier über seine Reisen, die Fotografie oder über sein liebstes Fortbewegungsmittel, die Seilbahn.
Toller Bericht, der mich neugierig auf diese Gegend macht :-) ! Können wir vielleicht kurz mailen/chatten?